Gößling, Andreas
Blätter-dach über ihnen fiel. »Noch vor dreißig Jahren waren die meisten Häuser hier leer, die Straßen mit Schlamm bedeckt und mit Unkraut überwuchert. Jaguare wohnten in den Palästen, in der Sternwarte hausten Schweine.«
Sie hatte Carmen auf das Dach ihres Tempels geführt – des Tempels der Mondgöttin. Jetzt standen sie unter einer riesigen Kokospalme, die direkt aus dem Dachfirst wuchs. Die Priesterin zeigte hierhin und dorthin und Carmen ließ sich bereitwillig alles erklären.
Sie fühlte sich wie verzaubert – von der jungen Frau im silberfarbenen Gewand, die sich so freundlich um sie kümmerte, von der märchenhaften Welt, in die es sie verschlagen hatte, von der unaufhörlichen Flut der Ereignisse und Eindrücke.
Das Zentrum von Tzapalil drängte sich in einer engen Schlucht zusammen, in deren Mitte wiederum sich der Krater mit dem großen Cenote befand. Vom Tempeldach aus konnte Carmen alles genau übersehen – den weiten Platz, um den sich die gewaltigen Gebäude erhoben, daneben den Abgrund, in dessen Tiefe der Cenote leuchtete wie ein riesiges grünes Auge. Tzapalil war von vornherein als verborgene Stadt angelegt worden, erklärte ihr die junge Priesterin. Vor dreihundert Jahren war Tayasal, das letzte freie Maya-Königreich, von den Spaniern überrannt worden. Von der Insel im Petén-See, wo heute Flores stand, war der Canek mit seinen Priestern, Kriegern und Gelehrten hierher geflohen. Sie hatten die Stadt errichtet und teilweise auch alte Gebäude wieder in Stand gesetzt. Denn dieser Ort war seit ältester Zeit Sitz von Maya-Königen gewesen.
Carmen hörte zu und sah staunend um sich. Seit sie gegessen und gebadet hatte, fühlte sie sich wieder bei Kräften und voll neuer Zuversicht. Jetzt waren sie so weit gekommen, da würden sie doch auch den letzten Schritt noch schaffen! Maria und Pedros Vater freibekommen – auf welche Weise, das würde sich schon noch zeigen. Mit dem Canek reden und mit dem Lahkin, der doch einen ganz vernünftigen Eindruck auf sie gemacht hatte. In der Badewanne – einem bunt bemalten Steinbecken mit angenehm kühlem, nach Blumen duftendem Wasser – hatte sie sogar eine Weile geschlafen. Die junge Priesterin hatte ihr ein silberfarbenes Gewand gebracht, das mit Mondsicheln bestickt war. Zusammen hatten sie ein köstliches Frühstück zu sich genommen – Ananas, Papaya und Bananen, Tortillas und schwarze Bohnen, dazu große Becher voll Kakao. Hoffentlich geht es Pedro bei seinen Maisgottpriestern auch so gut, dachte sie.
Die junge Priesterin hieß Ixkulam, wie sie Carmen beim Frühstück erzählt hatte. Vor ungefähr einem Jahr hatte sie eine Vision – einen Traum, der dreimal hintereinander wiederkehrte. Bis dahin hatte sie in Guatemala City gelebt, in einer Blechhütte im elften, dem allerärmsten Bezirk. Damals hieß sie Ines Institorez. Doch dann war ihr im Traum Ixchel erschienen, die junge Mondgöttin, und hatte sie mit dem Namen Ixkulam angeredet. Und da hatte Ines – oder eben Ixkulam – erkannt, dass sie ihr Leben von Grund auf ändern sollte.
Schon acht Tage später hatte sie die Favela verlassen, in der sie aufgewachsen war. Ihre Eltern, Brüder, Schwestern, Freunde – alle eben, ihre ganze Vergangenheit. Sie hatte ein paar Habseligkeiten zusammengepackt und war dem Ruf der Göttin gefolgt, die ihr befohlen hatte nach Tzapalil zu gehen. »Du sollst Priesterin in meinem Tempel werden«, hatte die Göttin Ixchel im Traum zu ihr gesagt.
Seit Ixkulam ihr von ihrer Vision erzählt hatte, war Carmen wieder ganz aufgeregt. Hatte nicht auch sie dreimal den mehr oder weniger gleichen Traum geträumt? War das also auch eine Vision gewesen – ein Zeichen irgendwelcher Götter? Oder einfach ein Finger-zeig aus ihrem Unterbewusstsein, wie Pedro meinte? Na ja, das glaub ich auch eher, dachte Carmen. Aber würde jemand wie Ixkulam solche Träume nicht trotzdem als göttlichen Hinweis ansehen?
Jedenfalls musste sie unbedingt mit der jungen Priesterin über die Sache reden. Die ganze Zeit überlegte sie schon, wie sie das Gespräch noch mal auf diesen Punkt lenken könnte.
Doch Ixkulam redete ohne die kleinste Pause. Immer wieder zeigte sie hinunter auf den Platz, an dessen einer Schmalseite sich der Tempel der Mondgöttin erhob. »Da drüben die graue Pyramide – das ist der Regengotttempel.
Sechs Faust des Zorns. Und daneben der Bau mit den hundert Säulen: der Tempel des Sonnengottes. Vier Kopf der Tapferkeit.
Man erkennt sie eigentlich ganz
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