Gößling, Andreas
leicht. Den Regengott an dem Rüsselzeichen – siehst du, oben auf der Pyramide. Und den Sonnengott an dem Relief mit den Adlern und Sonnenscheiben.« Es war angenehm, ihre zwitscherhelle Stimme zu hören, auch wenn manche ihrer Worte rätselhaft blieben. Vier Kopf der Tapferkeit? Und genauso schön war es, ihr sanftes, immer wieder lächelndes Gesicht zu sehen – nach all den grimmigen Fratzen, die sie in den letzten Tagen begleitet, verfolgt, umzingelt hatten. »Und das da drüben«, sagte sie,
»ist der Maisgotttempel. Acht Herz des Überflusses. Da sitzt dein Pedro jetzt – bei den Männern!« Sie lachte fröhlich auf und zog Carmen weiter, am Rand des Schwindel erregend hohen Tempeldachs entlang.
»Die Lage hier ist immer schwieriger geworden, je weiter sich die weißen Eroberer in unserem Land ausgebreitet haben.« Ixkulam zeigte wieder ihr bedauerndes Lächeln. »Um sich hier in der Stadt ernähren zu können, brauchten sie ja Felder und Bauern, die dreimal im Jahr Mais pflanzen und ernten. Und das alles im Verborgenen, damit die Spanier nicht auf Tzapalil aufmerksam wurden. Anfangs ging das noch ganz gut. Es gibt ja bis heute praktisch keine Wege vom Petén-See hierher – jedenfalls keine Wege, die weiße Leute finden und gehen könnten. Wer die unterirdischen Flüsse nicht kennt, kann eigentlich gar nicht hierher vordringen. Zu Fuß brauchte man Wochen und die Wälder sind voller Sümpfe und Schluchten.
Wer nicht die Malaria kriegt, wird vom Jaguar gefressen. Straßen für Jeeps gibt es auch nicht – oder es gibt sie natürlich doch, die alten Königswege nämlich, aber die sind ja alle unter Schlamm begraben und auf euren Landkarten nicht eingezeichnet.«
Ixkulam unterbrach sich kurz und sah Carmen aufmerksam an, als wollte sie die Wirkung ihrer Worte prüfen. Sie war neunzehn Jahre alt, wie sie Carmen erklärt hatte. Mit ihrer zierlichen Gestalt, den schmalen, ein wenig schrägen Augen, dem sanften Lächeln im rundlichen Gesicht sah sie fast asiatisch aus. Carmen fiel auf einmal auf, dass sie die ganze Zeit über dieses Lächeln erwiderte. Ixkulam lächelte sie an und sofort lächelte sie zurück, wie eine Puppe, bei der man auf einen Knopf gedrückt hatte. Vielleicht war diese Señorita gar nicht so harmlos, wie sie erscheinen wollte? Vielleicht verfolgte auch sie irgendwelche verborgenen Pläne? Carmen nahm sich vor doch lieber nicht gleich alle ihre Gedanken und Sorgen vor der sanften Ixkulam auszuschütten.
»In all der langen Zeit, seit Tzapalil besteht«, fuhr Ixkulam fort,
»hat es nur ganz selten mal Zusammenstöße mit Weißen gegeben.
Meistens waren das Holzfäller, die sich zu weit in den Dschungel vorgewagt hatten und die dann von den Kriegern des Canek abgefangen wurden.« Mit der Handkante machte sie eine sägende Bewegung vor ihrer Kehle. Carmen lief ein Frösteln zwischen den Schultern hinab. »Erst in den letzten fünfzig Jahren ist es wirklich schwierig geworden. Weil immer mehr Flugzeuge über den Wald fliegen, hat der Priesterrat des Canek damals beschlossen die ganze Stadt im Dschungel zu verstecken. Damals haben sie dieses Walddach über der Stadt angelegt – mit Seilen und Lianen, sodass in kürzester Zeit der Himmel über ganz Tzapalil zugewuchert ist. Aber trotzdem hat die Leute damals eine große Mutlosigkeit erfasst. Viele glaubten, dass es für Tzapalil keine Zukunft mehr geben könnte. Dass man versuchen müsste sich mit den weißen Leuten irgendwie zu arrangieren. Und so haben immer mehr Menschen Tzapalil verlassen. Bis schließlich – so um neunzehnhundertachtzig herum – nur noch ungefähr hundert Leute hier gelebt haben. Der Canek, seine Palastgarde und eine Hand voll Priester – kaum genug, um auch nur die wichtigsten Götterzeremonien durchzuführen. Denk dir nur, Carmen – in so einer Riesenstadt, in der früher mal dreißigtausend Menschen gewohnt haben!«
Wieder sah Carmen auf den großen Platz hinunter. Mit seinen prachtvollen Palästen und Tempeln, mit den Alleen und den bunt gekleideten Leuten, die unter Bäumen voller Blüten und Früchte spazieren gingen, sah er einfach großartig aus. Aber plötzlich bemerkte sie, dass hier so einiges nicht ganz in Ordnung war. Da drüben der riesige Flachbau, das sollte der Palast des Canek sein, wie Ixkulam ihr erklärt hatte. Die Fassade war schwarz, rot und grün bemalt und eine gefiederte Schlange wand sich als riesiges Relief fast über die ganze Breite des Baus. Aber die bunte Farbe konnte, wenn man
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