Gößling, Andreas
nicht zu ihm gegangen oder der Lahkin hat ihnen nicht geglaubt.« Pedro seufzte auf und machte wieder große Augen und da konnte Carmen gar nicht anders: Sie schob ihren Kopf noch näher zu ihm herüber und gab ihm einen Kuss auf den Mund.
Der Lahkin fauchte einen Befehl. Gleich vier der jungen Jaguarpriester sprangen herbei und beeilten sich ihnen die Fesseln abzunehmen. Weitere Priester in goldenen Roben kamen hinter dem Lahkin in den Tempelraum. Sie hatten Tragen aus weichem Leder dabei, auf die Carmen und Pedro gebettet wurden, und goldene Tücher, die sie ihnen überwarfen.
Aus der Nähe besehen, war der Lahkin ein uralter Mann. Aber eine unheimliche Kraft ging von ihm aus, das spürte Carmen sofort, als er neben sie trat. Der fette Jaguarpriester schwankte herbei und verbeugte sich vor dem Lahkin, die flachen Hände vor der Stirn zusammengelegt. Von seinen Fingerspitzen, die kleinen Fleischklöpsen glichen, baumelte am Lederriemen die Maske des Maisgottes. Der Lahkin pflückte sie herunter, ohne hinzusehen. Als sich der dicke Priester wieder aufrichtete, verlor er fast das Gleichgewicht und musste sich an einem seiner jungen Priester abstützen.
»Zu stehen bekommt ihm nicht gut«, sagte Pedro. »Und das Licht und die frische Luft schon gar nicht. Sie nennen ihn Chilam Balam, den liegenden Jaguar. In seinen Visionen sprechen die Götter zu den Menschen. Sein ganzes Leben verbringt er hier im Dunkel seines Tempels, von heiligen Kräutern berauscht.«
Der Lahkin beugte sich über Pedro und fauchte einige längere Sätze hervor. Dann bedeutete er seinen Sonnengottpriestern, die Tragen aufzuheben und ihm nach draußen zu folgen. Hoch aufgerichtet schritt er ihrer kleinen Prozession voran, ohne sich noch einmal nach dem Jaguarpriester umzusehen.
»Was hat er gesagt?«, fragte Carmen. Die jungen Männer in den sonnengelben Roben trugen sie durch die Tür und eine Treppe hinauf. Es war unfassbar hell und warm. Sie waren am Leben und hatten nur ein paar Ratscher mit dem Messer abbekommen. Na ja, etwas mehr als ein paar Ratscher waren es bei Pedro schon und eine Beule auf seinem Kopf obendrein. Aber sie hatten wahnsinniges Glück gehabt.
»Sie bringen dich in den Tempel der Mondgöttin«, sagte Pedro und sah auf einmal wieder ganz besorgt aus. »Ich soll in den Tempel des Maisgottes geschafft werden -Männchen und Weibchen getrennt.« Er versuchte zu grinsen.
»Sie wollen uns trennen?« Carmen sah von Pedro zum Lahkin, der ihnen leichtfüßig voraneilte. »Aber warum denn, Pedro?«
»Morgen ist die große Zeremonie zu Ehren des Maisgottes«, sagte Pedro. »Da sollen alle jungen Leute von Tzapalil in die Erwachsenenwelt eingeführt werden – so ein Fruchtbarkeitsritus… eine Art Erntedankfest«, verbesserte er sich hastig, als er Carmens erschrockenes Gesicht sah. »Bis dahin müssen Jungs und Mädels getrennt bleiben. Das ist halt der Brauch, verstehst du?«
»Na klar versteh ich das«, sagte sie, »und von mir aus machen wir auch dieses Waldfest mit, wenn es unbedingt sein muss. Aber was ist denn jetzt mit Maria und mit deinem Vater? Wie geht es ihnen? Wann dürfen wir zu ihnen? Hat der Sonnenpriester dazu nichts gesagt?«
»Doch, hat er.«
Sie waren am oberen Ende der Treppe angekommen. Vor ihnen dehnte sich ein weiter, rechteckiger Platz, gesäumt von riesigen, bunt bemalten Gebäuden. Pyramiden, Rundtempel, Paläste mit endlosen Fensterfronten. Alleen zogen sich kreuz und quer über den Platz und Leute in bunten Gewändern gingen unter den Palmen und Orangenbäumen spazieren. Es war ein fremdartiger, aber ganz und gar friedfertiger Anblick.
»Und was hat er gesagt? Pedro, lass dir nicht wieder jedes Wort aus der Nase ziehen!«
»Na ja«, sagte Pedro. »Auf dem Höhepunkt der Maisgott-Zeremonie sollen wir dem Canek entweder die drei anderen gestohlenen Sachen zurückgeben. Die Goldscheibe ihres Sonnengottes, die Jadefigur ihres Regengottes und die Silbersichel – «
»Herrje, das weiß ich auch, um was für Sachen es geht«, unterbrach ihn Carmen. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass unten am Cenote immer noch die Trommeln dröhnten, die Flöten jaulten und pfiffen. »Entweder das – oder?«
»Na ja«, sagte Pedro wieder. »Oder sie wollen uns alle vier morgen Mittag dem Maisgott opfern.«
15
»Viele Jahre lang war Tzapalil mehr oder weniger verlassen.« Die junge Priesterin lächelte bedauernd. Ihr silberfarbenes Gewand glitzerte im Sonnenlicht, das allerdings nur spärlich durch das
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