Gößling, Andreas
genauer hinsah, die Risse nicht verbergen, die sich wie ein Spinnennetz über die Fassade zogen. Und wuchs aus den Fenstern dahinten nicht sogar Gestrüpp hervor?
Ixkulam war Carmens Blick gefolgt. Jetzt nickte sie ihr zu und zeigte wieder ihr betrübtes Lächeln. »Mittlerweile ist hier einiges ziemlich verfallen. Wenn wir uns nur endlich frei bewegen könnten!
Aber so ganz im Verborgenen? Wie soll man denn neue Häuser bauen, Steine in Steinbrüchen hauen, Kalk brennen, Bäume fällen – ohne dass irgendwer da draußen was davon merkt?« Für einen Moment verdunkelten sich ihre Züge. Jetzt sah Ixkulam auch richtig finster aus – wütend und traurig, fand Carmen. Aber gleich hatte die junge Priesterin sich wieder in der Gewalt und lächelte sie an. »Es ist wirklich höchste Zeit«, sagte sie, »dass in Tzapalil einiges in Stand gesetzt wird. Aber die Zeit arbeitet ja für uns: In den letzten zwanzig Jahren ist es hier schon wieder mächtig bergauf gegangen. Tausende Leute sind wieder nach Tzapalil gezogen – solche wie ich, die plötzlich die Stimme unserer Götter gehört haben, oder auch Flüchtlinge aus dem Bürgerkrieg. So nennt ihr doch diesen Massenmord, der sich Jahrzehnte lang hier in Guatemala abgespielt hat? Bürgerkrieg!
Tatsächlich haben deine Leute einfach versucht meine Leute auszurotten, Carmen. Jahrzehntelang.«
Sie lächelte sanft und versonnen. Vom Cenote her, durch den Krater wie durch einen Schalltrichter verstärkt, drangen immer wieder laute Rufe zu ihnen herauf, Trommeln, Pfiffe, schrille Schreie.
Schweigend lauschten sie einen Augenblick lang auf die Geräusche der Stadt, die sich mit den Lauten des Dschungels mischten. Plötzlich fröstelte Carmen wieder, trotz der feuchten Hitze. Die Luft war stickig, vollkommen unbewegt, sogar hier oben auf dem Tempeldach. Vielleicht kam das von dem künstlichen Himmel aus Lianen, Schling- und Wucherpflanzen, der die ganze Stadt überspannte und das Sonnenlicht schimmelgrün verfärbte.
»Und so ist Tzapalil in den letzten zwanzig, fünfundzwanzig Jahren wieder groß und mächtig geworden«, fuhr Ixkulam fort. »Tausende Maya sind Jahr für Jahr hierher geflohen. Zehntausende haben sich auf einmal wieder an unsere Vergangenheit erinnert. Das hier ist ja unser Land, seit allerältesten Zeiten. Wir waren ja mal ein strahlendes Volk, mächtig, reich und glücklich. Wir lebten in gewaltigen Steinhäusern wie diesen hier. Unsere Priester waren Gelehrte, die den Himmel erforschten, Pyramiden, Tempel und Paläste bauten.
Mitte der neunziger Jahre fing hier eine regelrechte Renaissance an.
Die Kaziken der Maya-Dörfer im ganzen Land haben Gesandte hierher geschickt. Sie haben sich dem Canek unterworfen, haben versprochen ihm Leute zu schicken – Krieger und Jäger, Bauern für die Felder, Priester für die Tempel der Königsstadt. Und heute, Carmen?
Heute ist Tzapalil schon wieder fast so stark wie vor hunderten von Jahren. Deine Leute haben es nur noch nicht bemerkt. Die Maya in ganz Guatemala warten nur noch auf ein Zeichen des Canek. Auf dieses Zeichen hin sollen sich alle zur gleichen Zeit erheben und deine Leute wieder aus unserem Land werfen.«
Sie fasste Carmen beim Ellbogen und zog sie weiter, am Rand des Tempeldachs entlang. Carmen sah sie von der Seite her verstohlen an und fragte sich, ob Ixkulam das alles wirklich glaubte. Und dann fragte sie sich, was sie selbst von alledem glauben sollte. Das Dröhnen der Trommeln wurde schon wieder stärker, drängender.
Vom Cenote her war ein Rauschen und Rufen zu hören, als ob dort unten Mengen von Booten einträfen. Das alles klingt doch völlig verrückt, dachte Carmen. Oder etwa nicht? Ein König in einem Waldversteck, mit dem sich alle Maya-Nachfahren in ganz Guatemala verschworen hatten? Und auf sein Zeichen hin würden sie sich erheben – ja wie denn, bitte schön? Wollten sie vielleicht mit bloßen Händen oder mit Blasrohren und Speeren gegen diese guatemaltekischen Militärpolizisten losgehen, die überall mit ihren Maschinenpistolen rumliefen? Die standen doch vor jeder Bank, jedem Super-markt, auf jedem Marktplatz herum! Und selbst wenn die Maya einen solchen Kampf gewinnen würden – was ja ganz undenkbar war –, was wollten sie denn anschließend mit ihrem wieder freigekämpften Land anfangen? Überall Pyramiden hinbauen? Wieder in ihrer fortgeschrittenen Steinzeit leben, während die Flugzeuge aus den anderen Ländern über ihre Tempelstädte flogen?
»Und dieses Zeichen«,
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