Gößling, Andreas
sagte Ixkulam, »will der Canek morgen unseren Leuten geben. Im ganzen Land soll es zu sehen sein, wie eine riesige Flamme, die den Himmel blutrot färbt.«
Carmens Hals fühlte sich auf einmal staubtrocken an. »Was – was für ein Zeichen soll das denn sein?«
Ixkulams Lächeln war eine Maske sanften Bedauerns. »Für dich und Pedro tut es mir natürlich furchtbar Leid«, sagte sie. »Aber warum bist du auch ohne die heiligen Sachen gekommen, die eure Leute uns gestohlen haben?« Carmen starrte sie nur an. »Morgen Mittag – zur Stunde des Adlers – sollt ihr alle vier geopfert werden und euer Tod soll das Zeichen für unseren Aufstand sein.«
»Bitte, Ixkulam – Ines, hör mir doch wenigstens zu! Meine Mutter hat mit der ganzen Sache nichts zu tun – genauso wenig wie Pedros Vater! Und Pedro und ich doch noch viel weniger!« Carmen suchte den Blick der jungen Priesterin, aber die sah an ihr vorbei, hinunter zum Platz. Ihr Gesicht war jetzt abweisend, auch wenn sie immer noch dieses sanfte Lächeln zeigte. »Ich kann ja alles erklären«, versuchte es Carmen wieder. Ihr war ganz schlecht und schwindlig und sie hatte vollkommen weiche Knie. Aber sie konnte doch nicht einfach ohne ein Wort zuhören, wie alle diese Leute immer wieder verkündeten, dass sie sterben sollten! Morgen Mittag, was für ein Wahnsinn! Sie holte tief Luft. »Maria – also meine Mutter – kriegt immer wieder solche Sachen angeboten«, fuhr sie fort.
»Aus alten Gräbern, Tempeln, Pyramiden – aber sie hat ja gar kein Interesse daran, diese Sachen zu kaufen. Und erst recht hat sie kein Geld – sie ist ja eine Wissenschaftlerin. Ixkulam! Sieh mich doch bitte an!«
Ixkulam stand jetzt wie eine Statue neben ihr auf dem Tempeldach und sah immer nur starr in die Tiefe. Es wirkte fast so, als ob sie Mut sammeln würde, um gleich da hinunterzuspringen. Oder nein, eher so, als ob ihr plötzlich klar geworden wäre, dass sie fliegen könnte, wenn sie sich nur getraute. »Es ist der Wille der Götter«, sagte sie aber nur. »Der Canek und seine obersten Priester haben es so beschlossen.«
Der Wille der Götter! Was konnte man dagegen überhaupt noch einwenden? Im Moment wusste Carmen einfach nicht weiter. Stumm sah sie zu, wie unter ihnen mindestens dreißig Männer über den Platz marschierten. Sie alle trugen nur ein buntes Tuch um die Hüften und jeder von ihnen schleppte große Bretter oder hatte dicke Holzstangen geschultert. Hintereinander gingen sie bis zur Stirnseite des Platzes.
Dort warfen sie ihre Last zu Boden und fingen gleich an aus dem Holz ein Gerüst zu bauen. Priester in sonnengelben Gewändern standen in der Nähe und beaufsichtigten ihre Arbeit. Anscheinend sollte dort drüben eine Art Bühne entstehen. Etwa für die Opferzeremonie?
Der Magen zog sich Carmen zusammen.
»Ixkulam, bitte«, versuchte sie es wieder. »Du findest das doch auch nicht richtig, das spür ich ja. Warum wollt ihr denn vier Leute umbringen, die mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun haben?
Dann wärt ihr ja auch nicht besser als die anderen, die eure Leute getötet haben! Und das mit dem Zeichen und dem Aufstand versteh ich sowieso nicht. Ich denke, ihr wollt diese vier heiligen Sachen zurückhaben? Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun? Das könnt ihr doch nicht machen, Ixkulam!« Sie hob die Hände, als ob sie die junge Priesterin um Gnade anflehen wollte, und ließ ihre Arme wieder herunterfallen. Verstohlen beobachtete sie Ixkulam, aber die schüttelte nur immer wieder den Kopf, das war ihre einzige Reaktion. »Meine Mutter«, fuhr Carmen mit leiserer Stimme fort,
»ist manchmal nicht besonders rücksichtsvoll. Das stimmt schon. Sie denkt immer nur an ihre Arbeit. An diese Ruinen und wie sie die ausgraben und wieder herrichten kann. Aber du musst mir glauben, Ixkulam – sie würde nie was wegnehmen, was nicht ihr gehört!«
Jetzt hatte sie Tränen in den Augen. Wie durch einen Nebelschleier sah sie die junge Priesterin an. »Sie hat doch nichts gemacht, wofür ihr sie so einfach umbringen könnt! Und wir anderen doch auch nicht! Und diese Maisgottmaske haben wir doch auch schon zurückgebracht!«
Zumindest schien Ixkulam endlich aus ihrer Erstarrung zu erwachen. Sie hob den Kopf und sah auf einmal ganz durcheinander aus.
»Was hast du da gesagt?«
»Dass meine Mutter niemals was wegnehmen – «
»Das meine ich nicht. Was hast du als Letztes gesagt?« Plötzlich redete Ixkulam so gedämpft, dass kaum noch was zu
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