Gößling, Andreas
nachdenklich an. »Aber vielleicht wart ihr im Gegenteil auch besonders weitsichtig…«
Die Fackel neben der Türöffnung flackerte und fauchte. Carmen sah in Ixkulams schwarze, schmale, katzenhaft schräge Augen und verstand überhaupt nichts mehr. »Wie meinst du das denn?«, fragte sie. Ixkulam schüttelte nur den Kopf. »Willst du etwa behaupten«, fuhr Carmen fort, »dass sie ihre heiligen Sachen gar nicht zurückhaben wollen? Euer Canek und seine obersten Priester?« Die Priesterin runzelte die Stirn, als ob sie mit dieser Auslegung nur halb einverstanden wäre. »Oder dass es jedenfalls so aussehen soll, als ob ihre Forderung nicht erfüllt worden wäre? Wegen morgen und dieser… Zeremonie?« Ixkulam hob eine strichdünne Augenbraue. »Weil sie uns als Opfer für eure Götter brauchen?« Da plötzlich verstand sie, was Ixkulam meinte. »Weil sie unbedingt dieses Zeichen geben wollen! Das willst du doch sagen, Ixkulam, ja? Dass sie gar keine friedliche Lösung wollen, weil sie dann nicht zum Aufstand trommeln könnten?«
Die junge Priesterin stimmte mit einem fast unmerklichen Nicken zu. »Wir Mondgottpriesterinnen haben schon seit längerem einen solchen Verdacht.« Sie sprach jetzt so leise, dass es fast nur ein Flüstern war. Carmen hörte mit weit aufgerissenen Augen zu. »Der Canek denkt bei Tag und Nacht an nichts anderes mehr als an Rache und Krieg. Die meisten der obersten Priester sind auf seiner Seite – und mit ihnen viele tausend unserer besten Krieger. Jeden Tag fordern sie aufs Neue endlich gegen die weißen Invasoren loszuschlagen. Seit langem warten sie auf die Gelegenheit, ein unwiderstehliches Zeichen zum Aufstand zu geben – ein Zeichen, das den Zorn und die Empörung unserer Leute genauso anstachelt wie ihren Aufbruchswillen und Kampfesmut.« Ixkulam unterbrach sich und setzte erneut dieses irritierend sanfte Lächeln auf. »Und was wäre dafür besser geeignet als eine Bande weißer Räuber, die die Tempel und Gräber unserer Ahnen geplündert haben – und die der Canek in einer großen Zeremonie unseren Göttern opfern lässt?« Wieder legte sie Carmen eine Hand auf den Arm und sah sie beschwörend an. »Was du über die Maske von Acht Herz des Überflusses gesagt hast, passt leider nur zu gut dazu. Aber bevor ich mit Ixkasaj rede, musst du mir sagen, wo ihr die Mondsichel, die Sonnenscheibe und die Jadefigur versteckt habt. Nur wenn ihr diese Sachen morgen wirklich zurückgeben könnt, haben wir überhaupt eine Chance – euer Leben zu retten und den blutigen Wahnsinn eines neuen Bürgerkriegs zu verhindern.«
Carmen ließ den Kopf sinken. Immer noch spürte sie Ixkulams beschwörenden Blick. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was sie denken sollte. Schrecken und Hoffnung jagten in ihr herum, vermischten sich miteinander und bildeten einen sausenden Schwindel in ihrem Kopf. Der König und seine Priester wollten sie umbringen, um so einen Krieg vom Zaun zu brechen? Und die Verschleppung von Maria und Pedros Vater, die Rückgabe der geklauten Sachen – all das sollte nur der Auslöser sein, damit Weiße und Maya einander an die Hälse gingen? Aber Ixkulams Priesterinnen waren bereit ihnen gegen ihre eigenen Leute zu helfen? Auf einmal kam Carmen diese ganze Geschichte ziemlich seltsam vor. Benahm sich Ixkulam nicht völlig widersprüchlich? Hatte sie nicht vorhin noch davon geschwärmt, dass Tzapalil wieder mächtig und stark geworden sei?
Hatte sie nicht gesagt, es wäre höchste Zeit, dass sie sich nicht mehr vor den Spaniern verstecken müssten? Vielleicht hatten der Canek und seine Priester Ixkulam nur auf sie angesetzt, damit sie das Versteck der anderen heiligen Sachen ausplauderte! Oder Ixkulam wollte diese Dinge auf eigene Faust an sich bringen, und dass dann vier unschuldige Leute sterben mussten, war ihr ganz egal. Wenn sie alle vier erst einmal tot wären, brauchte Ixkulam ja gar nicht mehr zu befürchten, dass irgendwer ihr auf die Schliche kam!
»Du traust mir nicht, Carmen«, sagte Ixkulam in das Durcheinander ihrer Gedanken hinein, »und ich glaube, mir würde es an deiner Stelle auch nicht viel anders gehen. Das Dumme ist nur, dass wir keine Zeit mehr haben.« Wieder fasste sie nach Carmens Hand.
»Wenn wir verhindern wollen, dass ihr morgen alle vier getötet werdet und im selben Moment in Guatemala ein neuer Bürgerkrieg aus-bricht, noch furchtbarer und blutiger als der letzte, dann musst du mir einfach vertrauen!«
»Aber woher weiß ich denn, dass du mich
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