Gößling, Andreas
verstehen war.
Sie trat näher zu Carmen und fragte ganz leise: »Pedro und du, ihr seid nicht mit leeren Händen nach Tzapalil gekommen?«
»Natürlich nicht!« Auch Carmen dämpfte jetzt ihre Stimme, weil Ixkulam warnend die Augen zusammenkniff. »Diese maisgelbe Maske harten wir doch dabei! Der fette Jaguarpriester hat sie uns geklaut, aber der kleine Mann mit der goldenen Robe – also dieser Lahkin –, der hat sie ihm weggenommen, als er uns aus dem Jaguartempel geholt hat!«
Noch während Carmen ihren eigenen Worten hinterherlauschte,
nahm Ixkulam sie beim Arm. Dass sie die Maske in Flores in ihrem Garten verbuddelt und der Großvater sie dort ausgegraben hatte, würde sie lieber nicht erwähnen. Jetzt erst bemerkte sie, dass Ixkulam sie quer über das Tempeldach führte. Offenbar gingen sie zu der Treppe zurück, auf der sie vorhin hier heraufgestiegen waren. »Aber wohin bringst du mich denn?«, fragte Carmen.
Ixkulam zog sie die schmalen Stufen wieder runter, ohne ein er-klärendes Wort. Die junge Priesterin war überraschend stark. Mit eisernem Griff umklammerte sie Carmens Handgelenk. So unaufhörlich sie eben noch geredet hatte, so hartnäckig schwieg sie jetzt.
Irgendwann gab es Carmen auf und ließ sich einfach weiterziehen, immer weiter die Treppe hinunter.
Schließlich endeten die Stufen vor einer schmalen Türöffnung.
Ixkulam trat hindurch und zog Carmen hinter sich her. Ein enger Gang, in dem es muffig roch. Offenbar befanden sie sich schon unter der Erde. Ixkulam nahm eine brennende Fackel aus einer Wandnische und eilte weiter. Links und rechts waren immer wieder schmale Türöffnungen. Decken oder Lederhäute hingen davor. Ganz am Ende des Flurs schob Ixkulam einen Vorhang beiseite und zog Carmen in eine winzige Kammer.
»Hier können wir besser reden.« Sie raffte ihr silbernes Gewand zusammen und setzte sich auf eine Steinbank, die in eine Mauernische eingelassen war. »Allerdings nicht lange – gleich muss ich wieder zum Tempeldienst.« Sie zeigte neben sich auf den Sitz. Die Fackel hatte sie in eine Halterung neben der Tür geschoben. »Setz dich zu mir, schnell.« Carmen sank auf die Bank und sah sie wortlos an. Ihr Silbergewand fühlte sich angenehm kühl an. Auf dem Boden lag eine Strohmatte, ansonsten war die Kammer kahl und leer. »Die anderen drei heiligen Sachen«, fragte Ixkulam, »habt ihr die auch?«
Ihr Blick, ihr Gesicht, ihre ganze Haltung wirkten plötzlich lauernd.
Carmen sah sie von der Seite her an. Wieso benahm sich die Priesterin auf einmal so sonderbar? Vor allem aber: Was sollte sie auf diese Frage nur antworten? Ja? Nein? Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Dazwischen gab es jedenfalls nichts. Leben oder Tod.
»Warum wunderst du dich denn überhaupt so«, fragte sie zurück,
»dass wir die Maske mitgebracht haben?«
Ixkulam rieb sich mit den Handballen über ihre Schläfen. »Eigentlich darf ich mit dir gar nicht über solche Sachen reden. Aber…«
Sie starrte einen Moment ins Leere. Dann gab sie sich einen sichtbaren Ruck und sah Carmen aus schmalen Augen an. »Unsere oberste Priesterin, die von der Mondgöttin geliebte Ixkasaj, war heute früh mit dem gesamten Rat der obersten Priester im Palast unseres Canek.
Nach ihrer Rückkehr hat sie uns Priester innen erzählt, was dort besprochen worden ist.« Sie fasste nach Carmens Hand. »Der Lahkin hat berichtet, wie er Pedro und dich im Jaguartempel abgeholt hat. Er hat gesagt, dass ihr mit leeren Händen gekommen seid. Daraufhin sind der Canek und die obersten Priester sehr zornig geworden und haben beschlossen, dass ihr morgen alle vier sterben sollt.«
»Aber das war gelogen! Wir hatten die Maske ja dabei! Er selbst hat sie von diesem fetten Jaguar – «
»Und die drei anderen Sachen – wo sind die?«
Die Frage traf Carmen wie ein Schlag in den Magen. Plötzlich fühlte sie sich wie jemand, der über ein Seil balanciert, tausend Meter über dem Boden. »Ich – «, begann sie und musste erst mal schlucken. »Na ja, die sind… an einem sicheren Ort.«
Ixkulam sah sie ungläubig an. »Aber warum habt ihr nicht alles auf einmal mitgebracht? Das war doch völlig verrückt von Pedro und dir!« Die Priesterin unterbrach sich und horchte zum Gang hinaus.
Doch von dort war nichts Besonderes zu hören, nur ein Gebrodel dumpfer Geräusche aus dem Dschungel und der Stadt. »Völlig verrückt«, wiederholte sie, »nur die Maske mitzunehmen und die anderen Sachen irgendwo zurückzulassen.« Sie sah Carmen
Weitere Kostenlose Bücher