Gößling, Andreas
die wehenden Tücher. Hinter einem Vorhang lag eine uralte Frau mit geschlossenen Augen und warf sich stöhnend auf dem Lager hin und her. Zwei junge Priesterinnen kauerten neben ihr, flößten ihr einen Trank ein und wischten ihr den Schweiß von der Stirn. Hinter dem nächsten Vorhang lag eine Gebärende, der Bauch wie eine Kugel emporgewölbt. Zwischen ihren weit gespreizten Beinen sah ein winziges, feuerrotes Köpfchen hervor. Die Frau stieß heisere Schreie aus, in atemloser Hast. Erst als Ixpalim an ihrem Finger zog, merkte Carmen, dass sie stehen geblieben war.
Sie gingen weiter, im Zickzack zwischen den wehenden Vorhängen hindurch. Überall schwangere Frauen, riesenhaft aufgeblähte Bäuche, Gesichter mit hechelnden Mündern, glasigen Augen. Neben jedem Bett hockten wenigstens zwei junge Priesterinnen in silberfarbenen Gewändern, die mit Krügen, Tüchern, Salben für sie sorgten.
Weitere Gänge, Kammern, Nischen, alles nur durch die wehenden Vorhänge abgeteilt. Carmen wurde ein wenig schwindlig. Sie fühlte sich wie in einem See bei unruhigem Wasser, wenn die Wellen von allen Seiten her durcheinander liefen. Allein würde sie hier niemals mehr herausfinden, dachte sie und folgte ihrer kleinen Führerin, die unbeirrt voraneilte. Hinter den Vorhängen lagen hier keine Schwangeren mehr, auch keine stöhnenden Großmütter. Junge Mädchen erblickte sie jetzt in den Nischen und bei ihnen auf den halbmondförmigen Betten lagen junge Männer, alle nur notdürftig bekleidet.
Sie lachten und scherzten miteinander, einige küssten sich, andere lagen ineinander verschlungen da.
Carmens Herz begann wieder zu klopfen, aber diesmal nicht vor Angst. Irgendwo vor ihnen erklang erneut der silberhelle Chorgesang und er mischte sich mit den Lauten der Liebenden und den Seufzern der Gebärenden und den Schmerzensrufen der kranken Frauen und den kräftigen Schreien der neugeborenen Babys. Auf einmal musste Carmen lächeln, sie hätte gar nicht sagen können, warum. Hinter den Vorhängen umarmten sich die Liebespaare. Und wenn ich jetzt mit Pedro in einer dieser Nischen läge? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, immer noch lächelnd.
»Die Priesterinnen rufen Ixchel an«, piepste Ixkulam und zog an ihrer Hand. Carmen nickte ihr lächelnd zu. Sie fühlte sich wie im Innern eines riesigen Wattebeutels, wie in einer silbernen Wolke oder nein, im Herzen des vollen Mondes. Vor ihnen wehte ein Vorhang empor und gab den Blick auf einen großen, kugelrunden Altar frei.
Um die silberne Kugel herum bewegten sich wenigstens zwanzig junge Priesterinnen in silberfarbenen Gewändern. Sie tanzten und sangen und warfen die Arme empor. Oben auf dem Altar saß eine nicht mehr ganz junge Frau. Eigentlich saß sie gar nicht, sondern kauerte auf ihren Unterschenkeln, wie es bei den Maya üblich war.
Ihr Haar war immer noch dicht und schwarz, aber schon mit silber-grauen Strähnen vermischt. Wie bei Maria, dachte Carmen und spürte einen Stich. Die Frau hielt den Kopf gesenkt, die Hände über ihren Haaren flach zusammengelegt. Bestimmt war es Ixkasaj, die oberste Priesterin. Carmen sah sie an und konnte sie doch nicht richtig sehen. Immer wieder tanzte eine der jungen Priesterinnen zwischen ihr und der kauernden Frau vorbei. Dazu sangen die Tänzerinnen ihren silberhellen Gesang, der mehr ein Zwitschern und Seufzen, ein Stöhnen und lang gezogenes Schreien war.
Dann plötzlich brach der Gesang der Priesterinnen ab. Alle hörten zur gleichen Zeit auf und blieben wie angewurzelt stehen. Die Frau auf der Silberkugel streckte eine Hand in Carmens Richtung aus. Durch die Lücke zwischen zwei Tänzerinnen konnte Carmen ganz genau sehen, wie Ixkasaj den Kopf hob und sie anschaute.
Aber es war nicht Ixkasaj. Die kleine Ixpalim klatschte in die Hände und jauchzte vor Entzücken. Wer da auf dem Altarstein hockte und Carmen mit starrem Lächeln entgegenblickte, war niemand anderes als Maria.
Wie im Traum stolperte Carmen auf sie zu, ergriff ihre Hand, wollte sich Maria in die Arme werfen. Mama, Maria!, dachte sie. Die Tränen schossen ihr in die Augen. Ixpalim stieß immer noch kleine Jauchzer aus. Mit der freien Hand fuhr sich Carmen übers Gesicht.
Als sie wieder klar sehen konnte, kauerte vor ihr auf dem Altarstein eine Fremde mit schrägen Augen, katzenhaften Zügen.
»Ixkasaj.« Sie zeigte auf sich, dann zur Decke empor und stieß eine rasende Folge von Schnalz-und Zwitscherlauten hervor. Dazu lachte sie und schaute wieder ernst und
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