Gößling, Andreas
soll ich jetzt nur machen?, dachte sie. Ihr Herz klopfte immer noch, als wollte es ihre Brust zersprengen. Mach die Augen zu, sagte Pedro in ihrem Kopf.
Er lächelte und legte die Arme um sie. Denk nach, flüsterte er und seine Lippen fuhren kitzelnd über ihr Ohr. Die Lösung ist in dir, Carmen, in dir allein.
Bereitwillig machte sie die Augen zu. Pedro lächelte sie an. Denk nach, sagte er wieder. Eine Lichtung mit einer Ceiba, Gestrüpp und einem Baum, an dem orangefarbene kleine Früchte wachsen – das ist doch viel zu ungenau! Hat deine Mutter denn damals nicht noch irgendwas gesagt, was uns weiterhelfen kann? Irgendwas über die Stelle, wo sie die Sachen verbuddelt hat? Bestimmt hat sie noch irgendwelche Einzelheiten erwähnt, und wenn du dich nur genügend anstrengst, fällt dir alles wieder ein.
So redete Pedro mit sanfter Stimme auf sie ein und hielt sie mit beiden Armen fest umschlungen. Aber wie Carmen sich auch an-strengte, ihr fiel keine weitere Einzelheit mehr ein. Im Gegenteil – plötzlich konnte sie sich kaum mehr an das erinnern, was Maria in ihrem Traum gesagt hatte. Welchen Baum hatte sie erwähnt – wirklich eine Ceiba? Und vielleicht hatte sie dort ja sowieso ganz andere Sachen versteckt – irgendwelchen anderen heiligen Krimskrams, der hier in Tzapalil niemanden interessierte. Aber sie wollen ihr Götter-zeug ja auch gar nicht zurückhaben, dachte sie dann – sie wollen uns umbringen, damit das ganze Land in einem Bürgerkrieg explodiert!
Nein, so kam sie nicht weiter. Carmen machte die Augen wieder auf. Pedro verblasste und in der Türöffnung stand ein kleines Mädchen und starrte sie mit großen Augen an. Es sah aus wie eine Miniaturkopie von Ixkulam. Die gleichen schrägen Augen, die gleichen dichten glänzend schwarzen Haare, das gleiche sanfte Lächeln. Sogar ein solches silberfarbenes Gewand wie die Mondgottpriesterinnen trug die Kleine, mit einer aufgestickten Mondsichel, auf der ein Hase wie auf einer Schaukel saß.
»Komm mit«, piepste das Mädchen und streckte eine winzige Hand nach ihr aus. »Unsere oberste Priesterin, die von der Mondgöttin geliebte Ixkasaj, erwartet dich.«
Ihr Name war Impala und sie war nicht größer als ein drei-oder vierjähriges Kleinkind. Aber sie musste um einiges älter sein, denn sie redete so ernsthaft und verständig, dass es einfach eine Freude war, mit ihr herumzulaufen. »Die Göttin ist mächtig und sie hilft immer«, piepste sie.
Energisch hielt Impala zwei von Carmens Fingern umklammert.
So führte sie Carmen durch den Flur und die Treppe wieder hinauf.
Aber diesmal ging es nicht bis aufs Dach – auf halber Höhe zog die Kleine sie in einen großen hellen Vorraum. »Warte hier.« Sie eilte auf eine Türöffnung zu, die mit einem silbernen Vorhang verschlossen war. Die Tür befand sich in einer geschwungenen Wand, in die kreisrunde Fenster eingelassen waren. Auch die Fenster waren durch silberfarbene Tücher verhängt. Ixchel hilft immer?, dachte Carmen.
Hoffentlich hast du Recht, Minipriesterin. Ob Ixkulam die Mutter der Kleinen war? Das würde jedenfalls erklären, warum Ixpalim ihr so verblüffend ähnlich sah. Und warum das Mädchen so gut Spanisch konnte.
Neugierig ging Carmen auf eines der runden Fenster zu. Gedämpfte Laute drangen hindurch, eine seltsame Mischung aus Röcheln, Singen, Schreien, aus Lachen, Seufzen und Stöhnen. Babys schrien hinter den silbernen Vorhängen, Schläferinnen schienen in Träumen zu murmeln, Liebende stöhnten ihre Sehnsucht hervor.
Aber das kann ja nicht sein?, dachte Carmen. Auch Schmerzensschreie hörte sie jetzt, als ob sich dort Kranke in Betten wälzten. Und dazu immer wieder silberhelle Chorgesänge, rhythmische Anrufungen ihrer Göttin, wie es schien.
»Ixkasaj hat jetzt Zeit für dich.« Wie aus dem Boden gewachsen stand die winzige Priesterin wieder neben ihr und griff nach Carmens Zeigefinger. »Mach schnell, sie muss bald schon zurück zum Canek.«
Die Kleine führte sie durch die Türöffnung in einen kreisrunden, riesigen Raum. Mengen silberfarbener Tücher hingen von der Decke herab und teilten anscheinend verschiedene Bereiche ab. Ein leichter Luftzug hielt die Tücher in ständiger Bewegung. Alles schien silbrig zu flimmern, wie eine Landschaft bei Mondschein. »Ixchel sorgt für unser Glück«, piepste Ixpalim. »Für Gesundheit und Leben. Sie hilft allen Mädchen und Frauen. Auch den Männern – wenn sie lieben.«
Carmen folgte ihr und warf verstohlene Blicke hinter
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