Gößling, Andreas
lächelte und sah Carmen grimmig an, die kein Wort und auch sonst überhaupt nichts mehr verstand.
Ich dreh durch, dachte sie. Ich krieg Halluzinationen. Ich verlier den Verstand! Oder wie sonst ließ sich denn erklären, dass sie eben für die Dauer eines holprigen Herzschlags ihre Mutter vor sich gesehen hatte? Nun erhob sich Ixkasaj und sprang leichtfüßig vom Altar herunter. Die jungen Priesterinnen verneigten sich vor ihr und tanzten rückwärts, mit scheinbar schwerelosen Sprüngen, fort vom Altar.
Es sah aus, wie wenn ein Stern seine Strahlen ausstreckte, lang und immer länger, bis die Priesterinnen allesamt hinter den Vorhängen verschwunden waren. Nur Ixkasaj war dageblieben. Und Ixkulam, die jetzt um den Altar herumkam, ihr winziges Ebenbild an der einen Hand und einen großen silbernen Becher in der anderen. Vielleicht ist es mir wegen diesen beiden da so vorgekommen, dachte Carmen, dass Ixkasaj meine Mutter wäre? Es war nicht gerade logisch, nicht besonders vernünftig oder realistisch – nichts von alledem. Aber was hatte hier denn bitte sehr die Logik verloren, die Vernunft, der alltägliche Verstand – hier im innersten Heiligtum der Mondgöttin Ixchel?
»Ixkasaj heißt dich willkommen«, sagte Ixkulam und reichte Carmen den Becher. »Ich habe ihr alles berichtet. Sie will mit dir sprechen. Trink das. Dann wirst du besser verstehen.«
Eine Stimme in Carmen schrie ihr zu, dass sie auf keinen Fall von diesem seltsam riechenden Gebräu trinken durfte. Aber da hatte sie den Becher schon angesetzt und goss das Getränk regelrecht in sich hinein. Ixkasaj sah ihr aufmerksam zu und es schien ihr sogar, als ob die oberste Priesterin mit ihr die gleichen Schluckbewegungen machte. Das Gebräu schmeckte nach überhaupt nichts, nicht einmal nach Nässe, es war so, als ob man in Nebel hineinzubeißen versuchte oder in einen Schwall Mondlicht, der sich nachts über eine Lichtung verströmte. Noch während der Silbertrank ihr die Kehle hinunter-rann, hatte Carmen das Gefühl, dass überall in ihr silbrige Lichter angingen – in ihrem Hals, ihrem Bauch, hinter ihrer Stirn. Sogar in ihren Beinen, Knien, Füßen schienen lauter kleine Silberfunzeln anzugehen. Es war ein so zauberhaftes Gefühl, dass sie gar nicht anders konnte – wie vorhin Ixpalim klatschte sie in die Hände und sah dann staunend zu, wie lauter winzige Silberfünkchen zwischen ihren Handflächen hervorspritzten.
»Im Traum hast du den Ort gesehen«, sagte Ixkasaj, »wo die Silbersichel von Ixchel, die Sonnenscheibe von Ahau und der Rüsselfrosch von Cha’ac vergraben liegen. Das ist sehr gut und es beweist, dass die Götter dir diese Aufgabe zugeteilt haben: Du sollst Leben retten und Frieden stiften.« Sie nahm Carmen den Becher ab und zog sie zu einer sichelförmigen Bank neben der Altarkugel. Jetzt erst sah sie, dass aus tausend kleinen Löchern im Boden silberweißer Dampf aufstieg. »Setz dich mit mir hierhin.« Ixkulam kauerte sich mit Ixpalim vor ihnen auf den Boden und übersetzte unablässig, was Ixkasaj sagte. Aber Carmen kam es so vor, als ob Ixkasaj direkt zu ihr spräche, als ob sie auf einmal diese wundersame Sprache verstünde, die ihr noch vor wenigen Augenblicken völlig unbegreiflich vorgekommen war. »Du sollst dafür sorgen, dass es kein weiteres Blutvergießen zwischen eurem und unserem Volk gibt«, sagte die oberste Mondgottpriesterin. Silberfunken schienen aus ihren Augen zu sprühen, aus ihrem Mund, jede Silbe auf ihren Lippen schien sich sofort in reines, leuchtendes Silberlicht zu verwandeln. »Also sei unbesorgt, Carmen. Alles wird gut werden. Mit der Hilfe unserer großen Göttin wirst du den Ort gleich noch einmal sehen. So genau, so erleuchtet, so klar, dass wir die Stelle bei Tag ohne Mühe wieder finden werden.«
Die oberste Priesterin schwieg plötzlich, sie schien auf eine Antwort zu warten. Da erst wurde Carmen wieder bewusst, dass hinter den Vorhängen immer noch der seltsame Chor der Liebenden, Weinenden, Gebärenden, Seufzenden erklang. Ihr Blick glitt durch den Tempelraum, kehrte zur Altarkugel zurück und blieb an Ixkulam hängen, die vor ihren Füßen kauerte, ihr winziges Spiegelbild im Arm. »Aber woher weiß ich denn, ob ich euch trauen kann?«, sagte sie endlich. Sie hatte gar nicht gewusst, dass sie das fragen würde.
Doch kaum waren die Worte heraus, da wurde auch ihr Misstrauen wieder wach. Wem konnte sie hier denn überhaupt glauben? Die Zwillinge, der oberste Jaguarpriester, der Lahkin –
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