Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Stück »Die Geschwister« für das Liebhabertheater. Mitte November beginnen die Proben.
Mitten hinein in diese Hochstimmung platzt das schlimme Ereignis vom 26. November 1776. Lenz war wohl aus Berka nach Weimar hereingekommen. Dann hatte es den Zusammenstoß zwischen ihm und Goethe gegeben, in derselben Nacht war Lenz nach Berka zurückgekehrt, denn am nächsten Tag reitet Goethe, laut Tagebuch, nach Berka hinaus, wohl zum Zweck einer Aussprache, die nicht befriedigend verläuft: Tags darauf beantragt Goethe Lenzens Ausweisung. Dem Hofbeamten Einsiedel muß diese Maßnahme übertrieben vorgekommen sein, denn Goethe schreibt ihm unwirsch:
Lenz wird reisen. Ich habe mich gewöhnt bei meinen Handlungen meinem Herzen zu folgen und weder an Mißbilligungen noch an Folgen zu denken. Meine Existenz ist mir so lieb, wie jedem andern, ich werde aber just am wenigsten in Rücksicht auf sie irgend etwas in meinem Betragen ändern
.
Der Grund für Goethes schroffe Entscheidung, die eigentliche Beleidigung, bleibt, wie gesagt, ein Geheimnis. Bedenkt man Goethes Verstimmung während Lenzens Aufenthalt bei der Frau von Stein, läßt sich vermuten, daß die Entscheidung im Zusammenhang dieser Dreiecksbeziehung steht. Vielleicht hatte sie auch über Goethe Klage geführt, und Lenz hat es bei einem Zusammenstoß gegen Goethe vorgebracht. Es muß ihn in einer Herzensangelegenheit verletzt haben, weil er so trotzig erklärt, er könne in dieser Angelegenheit nicht anders als seinem
Herzen folgen
. Indem er Lenz ausweisen läßt, handelt er so, als ginge es um seine Existenz: entweder er oder ich.
Lenzens Existenz aber ist nun wirklich vernichtet. Man will ihm noch eine finanzielle Entschädigung geben, die er aber zurückweist. Er will keine Gnade, sondern
Gerechtigkeit
; das Ansinnen, sich
eines mir unbewußten Verbrechens schuldig zu bekennen
, weist er zurück. In großer Verzweiflung verläßt er Weimar in Richtung Straßburg. Von Goethe aber kommt er nicht los. Er macht Station in Emmendingen, die Schlossers nehmen ihn auf. Es gibt innige Gespräche mit Cornelia. Er bleibt dort ein halbes Jahr. Danach zieht er ruhelos in der Schweiz und im Elsaß umher, heimgesucht von Wahnsinnsanfällen. Im elsässischen Waldersbach findet er Unterkunft und Pflege beim Pfarrer Oberlin; diese Episode wird Georg Büchner zwei Generationen später in seiner berühmten Erzählung »Lenz« behandeln. Anfang 1778 kehrt Lenz noch einmal nach Emmendingen zurück. Cornelia ist inzwischen gestorben. Eine Weile lang findet er Hilfe und Pflege. Im Sommer 1779 aber ist es damit zu Ende. Sein Bruder Karl holt ihn nach Livland zurück. Dort in Riga beim Vater, dem Generalsuperintendenten, hält er es nicht aus. Er geht nach Rußland und schlägt sich zuerst in St. Petersburg und dann in Moskau als Hauslehrer und Übersetzer durch. Es gibt Phasen von geistiger Umnachtung. Er schreibt, philosophische Abhandlungen, Skizzen für Theaterstücke, Denkschriften, Reformvorschläge. Doch er veröffentlicht nichts mehr. Für die literarische Welt ist er schon lange tot. Am 22. April 1792 findet man ihn auf einer Straße in Moskau, erfroren im Schnee.
Von alledem weiß Goethe nichts. Er zieht auch keine Erkundigungen ein. Das Thema Lenz wird in seiner Gegenwart nicht berührt. Kurz nach der Ausweisung von Lenz schreibt Goethe an Charlotte von Stein:
Die ganze Sache reißt so an meinem Innersten, daß ich erst dadran wieder spüre daß es tüchtig ist und was aushalten kann.
Anmerkungen
Dreizehntes Kapitel
Klinger, Kauffmann. ›Sturm und Drang‹ zu Besuch.
Die Schutzbefohlenen. Verhaltenslehre. Pegasus und Amtsschimmel.
»Wilhelm Meisters theatralische Sendung«, diktiert, nicht »hingewühlt«.
Dezember 1777: »Harzreise im Winter« und das Gottesurteil.
Goethe fühlte sich von Lenz beleidigt, deshalb seine harsche Reaktion. Aber auch Friedrich Maximilian Klinger, ebenfalls ein Freund früherer Tage, der im Sommer 1776 in Weimar auftauchte und hoffte, Goethe werde etwas für ihn tun, wurde weitergeschickt, wenn auch nicht mit einem Ausweisungsbefehl.
Klinger ist uns ein Splitter im Fleisch seine harte Heterogeneität schwürt mit uns, und er wird sich herausschwüren.
Lenz wird in diesem Brief als
krankes Kind
bezeichnet, Klinger aber war ein harter Brocken. Er trat außerordentlich selbstbewußt auf, eine stattliche Erscheinung, ein Liebling der Frauen, seine wohltönende Baßstimme trug weit. Er strahlte Entschiedenheit aus, war dabei höflich, ohne
Weitere Kostenlose Bücher