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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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empfindsamer Jüngling, »Herz« heißt er. Sein Gegenspieler ist der selbstverliebte, sonst aber nüchterne, fast zynische »Rothe«, eine Figur, die deutlich auf Goethe verweist. Man merkt der Erzählung an, daß Lenz hier eine Enttäuschung, vielleicht sogar das Gefühl, verraten worden zu sein, verarbeitet. Dieser »Rothe« ist ein vollkommener »Epikuräer«, bei dem die »Selbstliebe« wenige Tugenden übrig gelassen hat, der sich anpaßt, wenn er einen Vorteil erlangen will, dabei aber immer den Kopf oben behält. Er gibt sich nicht hin und gibt sich nicht preis, und mit den Leuten um sich herum spielt er wie mit Marionetten. »Herz« verliert die Orientierung, schmerzlich wird ihm bewußt, daß ihm gesellschaftliches Geschick fehlt. Er erwägt die Auswanderung nach Amerika, um sich dort als Soldat zu verdingen. Er will sich wegwerfen oder sich bewähren, je nachdem. Verbittert und rachsüchtig notiert er in seinem letzten Brief: »Rothe ist ein Verräter 〈...〉 er wird meinen Händen nicht entrinnen.«
    Lenz vollendete die Erzählung nicht. Ob er sie Goethe überließ oder ob man sie bei seinen in Weimar zurückgelassenen Papieren fand und Goethe sie an sich nahm, ist nicht mehr festzustellen, jedenfalls befanden sich dieses und andere Manuskripte in Goethes Besitz, als Schiller einundzwanzig Jahre später danach fragte, weil er beabsichtigte, in den »Horen« etwas von dem inzwischen längst vergessenen Autor zu veröffentlichen. Goethe überließ ihm 1797 die Manuskripte, die er von Lenz besaß. Schiller an Goethe: »Die Lenziana, soweit ich bis jetzt hinein gesehen, enthalten sehr tolles Zeug, aber die Wiedererscheinung dieser Empfindungsweise zu jetzigen Zeiten wird sicherlich nicht ohne Interesse sein, besonders da der Tod und das unglückliche Leben des Verfassers allen Neid ausgelöscht hat, und diese Fragmente immer einen biographischen und pathologischen Wert haben müssen.« Die beiden werden sich für den Abdruck des »Waldbruders« entscheiden. Für Goethe bedeutete das ein großes Entgegenkommen, denn er hatte sich bisher nicht nur geweigert, etwas von den Manuskripten drucken zu lassen, man durfte den Namen von Lenz in seiner Gegenwart noch nicht einmal erwähnen. In Goethe war eine schmerzende Erinnerung an Lenz zurückgeblieben, an die er nicht rühren wollte. Erst Jahrzehnte später konnte Goethe in »Dichtung und Wahrheit« in gelassenem Ton über diesen Freund der Jugend schreiben.
    Es mußte damals, als Lenz von Berka wieder nach Weimar zurückgekehrt war, zwischen ihm und Goethe etwas Dramatisches vorgefallen sein, wovon wir kein unmittelbares Zeugnis besitzen, nur Goethes Tagebucheintrag vom 26. November 1776, wieder die ominöse Bemerkung:
Lenzens Eselei
. Ein Vorfall, der Goethe veranlaßte, den Herzog um eine sofortige Ausweisung von Lenz zu bitten. Der Herzog zögert, gibt dann, Goethe zuliebe, den Ausweisungsbefehl. Lenz bittet über Herder um einen Tag Aufschub, der ihm gewährt wird. Anderntags zieht Lenz ab. Alle Beteiligten, Goethe, der Herzog, Anna Amalia, die Frau von Stein, Herder, Kalb hüllen sich in Schweigen in Bezug darauf, was denn nun eigentlich vorgefallen war. Es könnte sich um ein »Pasquill« gehandelt haben, das Anzüglichkeiten über Goethe, vielleicht auch die Frau von Stein oder Anna Amalia enthielt. In seinem Abschiedsbrief an Herder schreibt Lenz, er fühle sich »ausgestoßen aus dem Himmel als ein Landläufer, Rebell, Pasquillant. Und doch waren zwo Stellen in diesem Pasquill die Goethe sehr gefallen haben würden, darum schickt ich’s Dir.« Der an Herder adressierte Umschlag, in dem das Pasquill gesteckt haben mochte, wird im Goethe-und-Schiller-Archiv aufbewahrt. Er ist leer. Die Formulierung von Lenz im Brief an Herder deutet darauf hin, daß Goethe das ominöse Pasquill zum Zeitpunkt der Ausweisung noch gar nicht kannte. Wenn Lenz in demselben Brief schreibt, Goethe möge die »Reinheit« seiner Absichten nicht mißverstehen, »so sehr ich ihn beleidigt habe«, dann muß es noch eine andere Beleidigung gegeben haben. Sie war von einer Art, die es allen Beteiligten offenbar verbot, sie zur Sprache zu bringen.
    Lenz war nach seinem Aufenthalt in Berka von der Frau von Stein auf ihren Landsitz Großkochberg eingeladen worden, der Anlaß: Lenz soll ihr Englischunterricht geben. Das geht sehr gut, Lenz an Goethe: »Die Frau von Stein findet meine Methode besser als die Deinige.« Lenzens Besuch bei der Frau von Stein fällt in eine Zeit, da es zwischen

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