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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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sich nichts vormachen läßt. Solche bürgerliche Nüchternheit empfindet er als ein
Pech, das die Flügel
seines Geistes verleimte
, er sieht in ihr
Stricke, die den hohen Schwung der Seele fesselten.
    Mit leichter Ironie werden die ersten künstlerischen Versuche Wilhelms geschildert, auch, wie er sich dabei erotisch verstrickt, wobei der Erzähler den Leser immer merken läßt, daß Wilhelm durchaus nicht so hoch steigt, wie dieser selbst glaubt. Wilhelms poetischer und erotischer Enthusiasmus wird durch einen Außenblick relativiert. Der Absolutismus der Empfindung ist, anders als im »Werther«, gebrochen. Dort gibt es Gegenspieler des Empfindsamen, aber sie haben keine eigene Stimme. Im »Wilhelm Meister« gibt es zahlreiche Gegenspieler, mit Gewicht und eigenem Recht, wodurch der Roman überhaupt erst welthaltig wird, denn eine wirkliche Welt tut sich immer erst dort auf, wo es nicht einstimmig zugeht, wo es Widerstände gibt und Wechsel von Perspektiven.
    Einer dieser Gegenspieler ist Werner, Wilhelms Freund und späterer Schwager. Werner ist Realist, aber durchaus begeisterungsfähig: Er
lodert
zwar nicht schnell auf, doch wenn er sich entflammen läßt, so entwickelt er Ausdauer und Konsequenz.
Werner tat sich was zu Gute drauf, daß er denen trefflichen, obgleich leider gelegentlich ausschweifenden Gaben Wilhelms mit unter Zügel und Gebiß anzulegen schien
. Werner hat nichts einzuwenden gegen Pegasus, aber er möchte, daß der Freund auf diesem Pferd der Poesie auch wirklich reiten kann und nicht abgeworfen wird. Werner verkörpert ein Realitätsprinzip, das der Poesie nicht feindlich ist, sondern sie in ihren Grenzen gewähren läßt und ihr den nötigen Halt zu geben sucht.
    So wollte Goethe auch für sich selbst die Spannungen zwischen realistischem Weltbezug und poetischer Natur lebbar gestalten. Das war natürlich nicht einfach. Wie plötzlich kann der Amtsschimmel zum Pegasus werden, und umgekehrt. Im Leben ist es Charlotte, die Goethe mit der Aufgabe betraut, darauf zu achten, daß er nicht abgeworfen wird, im Roman ist es Werner.
    Wilhelm fehlen bisweilen die Worte, und das ist sein Problem,
so stockte es ihm doch oft in der Kehle, wenn er seine Empfindungen lebhaft mitteilen sollte, er konnte nie große Worte genug finden um das was er fühlte aus zu drücken.
Deshalb ist es auch nicht Wilhelm selbst, der seine Geschichte erzählt, sondern der Erzähler, der die Mitte hält zwischen Wilhelm und Werner. Er hat Distanz und Realitätssinn, aber auch Phantasie und Empfindsamkeit genug, um alles zur Sprache zu bringen, was zur Sprache drängt. Wilhelm ist ganz Leben und hat zu wenig Form, Werner hat viel Form und zu wenig Leben. Dem Erzähler erst gelingt die lebendige Form. Und darum ist es so bedeutsam, daß im »Wilhelm Meister« die erzählte Welt durch einen distanzschaffenden Erzähler entfaltet wird und nicht, wie im »Werther«, aus der Perspektive eines Menschen, der sich in sich selbst verliert und dadurch der Welt verloren geht.
    Als Goethe im Januar 1777 mit dem »Wilhelm Meister« begann, wußte er noch nicht, welchen Verlauf er der Geschichte geben sollte. Als er in einem Brief an Knebel vom 21. November 1782 zum ersten Mal dem Roman den Untertitel »Theatralische Sendung« gibt, deutet er damit an, daß es offenbar nicht auf Wilhelms Abschied vom Theater hinauslaufen sollte – wie in der endgültigen Fassung des Romans –, sondern auf die Vision eines gereinigten, soliden, ehrbaren, wirklichkeitsgesättigten und zugleich idealen Theaters, das von Herzen kommt und zum Herzen spricht. Ein Theater, das sich kindliche Spielfreude bewahrt und doch erwachsen geworden ist, ohne zu verknöchern. Es mochte Goethe vorgeschwebt haben, an der Geschichte seines Helden, seines Wachsens und Gedeihens, eine gedeihliche Entwicklungsgeschichte des Theaters in Deutschland zu antizipieren.
Die deutsche Bühne
, so reflektiert der Erzähler,
war damals in eben der Krise, man warf die Kinderschuhe weg, ehe sie ausgetreten waren, und mußte indes barfuß laufen.
Daraus könnte dann ein Theater erwachsen, dessen man sich nicht schämen muß, wenn man inzwischen vom Poeten zum Geheimrat avanciert ist. Doch solche Perspektiven bleiben noch Vision; vorerst begnügt sich Goethe damit, die Laienspielschar in Weimar, bestehend vor allem aus Hofleuten, anzuregen und zu leiten. Unter diesen Umständen ist nicht zu erwarten, daß von Weimar eine Erneuerung des Theaters ausgehen könnte. Ende 1777 legt Goethe das

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