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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Romanprojekt beiseite.
    Die Zäsur dieses Jahres war die Harzreise im Dezember 1777 mit der Besteigung des Brocken, ein Ereignis, dem nicht erst die Nachwelt, sondern Goethe selbst schon die Gestalt eines Privatmythos gegeben hat: Die »Harzreise im Winter«.
    Die Vorgeschichte dieses einsamen Ritts durch Hagelschauer und Winterstürme beginnt an einem Sommertag. Am 16. Juni 1777 erreicht Goethe in seinem Gartenhaus die Nachricht vom Tod der Schwester Cornelia.
Dunkler zerrißner Tag
notiert er im Tagebuch. Die Schwester war nie mehr richtig lebensfähig gewesen, nachdem sich die Lebenswege von ihr und dem über alles geliebten Bruder getrennt hatten. Goethe hatte geahnt, daß Schlosser nicht der richtige Ehemann für sie war. Wahrscheinlich gab es überhaupt keinen richtigen Mann für sie, außer dem Bruder. Sie legte sich ins Bett, zog die Vorhänge zu, und stand kaum mehr auf. Nur wenn Besucher eintrafen, die mit dem Bruder in Verbindung standen und Kunde von ihm brachten, lebte sie auf. So war es gewesen, als Lenz bei ihr erschien. Sie hatte am 16. Mai 1777 ihr zweites Kind, eine Tochter, zur Welt gebracht. Vom Wochenbett erholte sie sich nicht mehr. Am 8. Juni starb sie. Schlosser an Lavater: »Ich kann euch die Geschichte ihres Leidens nicht erzählen! Es tut mir zu weh!« Im Brief an Goethe vom 14. Juni hatte er sich bereits gefangen. »Ich will nicht klagen. Es ist unmännlich 〈...〉 Das ist mein erstes wahres Unglück und Dank sei Gott, daß das mich traf, wo mein Leib und meine Seele noch einige Stärke hat. Nun kann mich nichts mehr brechen.« So ist er eben, der tüchtige Schlosser, er schließt das Kapitel ab und denkt an das Leben danach. Es vergehen auch nur neun Monate, dann wird er sich mit Johanna Fahlmer, dem ›Tantchen‹, verbinden.
    Goethe ist wie betäubt, als er die Nachricht vom Tod seiner Schwester erhält. Er hatte ihr seit dem Besuch in Emmendingen im Sommer 1775 nicht mehr geschrieben. Schon der Besuch selbst war ihm schwer geworden, eine
wahrhafte Prüfung
heißt es in »Dichtung und Wahrheit«. Es hatte kein Zerwürfnis gegeben, es hatte sich auch keine Gleichgültigkeit eingestellt. Er hatte sie damals leiden gesehen und war bei seiner Abreise zu der bitteren Überzeugung gekommen, daß es ihr an Lebenskraft fehlt und ihr wohl nicht zu helfen war. Er litt darunter. Weil er nicht helfen konnte, tat er alles, um dieses Leiden und das eigene Mitleiden von sich fernzuhalten. Und nun also die Nachricht von ihrem Tod. Sie trifft ihn in Lebensumständen, die er selbst unumwunden als
glücklich
bezeichnet. Es ist dieser grelle Kontrast zwischen dem Glück hier und dem tödlichen Elend dort, der ihn schmerzt. Er werde sich der
Natur
überlassen, schreibt er weiter,
die uns heftigen Schmerz nur kurze Zeit, Trauer lang empfinden läßt.
Einen Monat später entsteht aus dieser Trauer ein Gedicht, das er an Auguste zu Stolberg schickt:
Alles gaben Götter die unendlichen / Ihren Lieblingen ganz / Alle Freuden die unendlichen / Alle Schmerzen die unendlichen ganz.
    Von den
Freuden
sprechen die Briefe dieser Wochen, dann wieder durchzuckt ihn etwas und bringt ihn aus dem Gleichgewicht. Mitte November schreibt er an die Mutter:
Mein Herz und Sinn ist zeither so gewohnt daß das Schicksal Ball mit ihm spielt
〈...〉
Mit meiner Schwester ist mir so eine starke Wurzel die mich an der Erde hielt abgehauen worden, daß die Äste, von oben, die davon Nahrung hatten auch absterben müssen
. Und an Johanna Fahlmer, lakonisch:
Ich bin sehr verändert
.
    Es ist etwas mit ihm geschehen. Zwei Wochen später bricht er auf, alleine zu Pferde bei Sturm und Schneegestöber auf den nördlichen Harz zu. Keinem hat er von seinem Vorhaben erzählt, nicht dem Herzog, auch nicht Charlotte von Stein, der er einen Zettel hinterläßt:
Ich bin in wunderbar
dunkler Verwirrung meiner Gedanken. Hören Sie den Sturm der wird schön um mich pfeifen.
    Später nannte Goethe zwei Gründe für diesen aus der Sicht der Freunde plötzlichen Aufbruch. Er habe in den Bergwerken des Harz Kenntnisse sammeln wollen für die soeben begonnenen eigenen Bemühungen, den Ilmenauer Bergbau wieder in Gang zu bringen. Und zweitens habe er in Wernigerode einen gewissen Victor Leberecht Plessing aufsuchen wollen, einen gelehrten und schwermütigen Sonderling, der ihm in großer Seeelennot geschrieben und dem er nicht geantwortet hatte. Es sei, schreibt er rückblickend,
das wunderbarste was mir in jener selbstquälerischen Art vor Augen

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