Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
gekommen.
Er fühlte Verantwortung diesem Mann gegenüber, der ihm brieflich gestanden hatte, durch die Lektüre des »Werther« aus der Bahn geworfen worden zu sein. Vielleicht wirkte bei Goethe auch ein unterschwelliges Schuldgefühl der Schwester gegenüber: ihr hatte er nicht geholfen, jetzt kam ein anderer Hilferuf, und so machte er sich auf den Weg.
Doch es gibt noch einen dritten Grund. Davon ist die Rede im Tagebuch, in den Briefen an Charlotte von Stein und in dem großen hymnischen Gedicht, der »Harzreise im Winter«.
Das Ganze war auch eine mystifizierende Inszenierung. Am 29. November bricht Goethe auf, Richtung Sondershausen und Nordhausen, im
dichten Schneegewölk.
In den Briefen an die Frau von Stein meidet er Hinweise auf die Orte und die Gegend, wo er sich gerade befindet. Er reist unter falschem Namen, ›Weber‹ nennt er sich und gibt sich einmal als Jurist aus, ein anderes Mal als Maler oder versucht, überhaupt anonym zu bleiben.
Mir ist’s eine sonderbare Empfindung, unbekannt in der Welt herumzuziehen, es ist mir als wenn ich mein Verhältnis zu den Menschen und den Sachen weit wahrer fühlte.
Am Tag des Aufbruchs notiert er im Tagebuch
reine Ruh in der Seele
. Das stürmische Schneetreiben und die Hagelschauer lassen nach, gegen Abend gibt es die ersten
Sonnenblicke
hinüber zu den Bergen des Harz. Am nächsten Tag ist alles fest gefroren,
die Sonne ging mit herrlichsten Farben auf
, von Ferne sieht man die Spitze des Brocken. Dann wieder Eintrübung, es beginnt zu regnen.
Die Nacht kam leise und traurig.
Im Wirtshaus in Ilfeld, das eigentlich voll belegt ist, läßt er sich eine winzige Schlafkammer neben der Wirtsstube anweisen. Durch ein Astloch verfolgt er die weinselige Geselligkeit nebenan. Einige Amtsleute auf Inspektionsreise feiern hier. Er gibt sich in seinem Versteck nicht zu erkennen. Beobachten ohne beobachtet zu werden, das gefällt ihm. Im Rückblick malt er diese Szene behaglich aus.
Ich sah die lange und wohlerleuchtete Tafel von unten hinauf, ich überschaute sie wie man oft die Hochzeit von Kana gemalt sieht;
〈...〉
genug es war ein fröhliches bedeutendes Mahl, das ich bei dem hellsten Kerzenscheine in seinen Eigentümlichkeiten ruhig beobachten konnte, eben als wenn der hinkende Teufel mir zur Seite stehe und einen ganz fremden Zustand unmittelbar zu beschauen und zu erkennen mich begünstigte.
〈...〉
Manchmal schien es mir ganz gespensterhaft, als säh’ ich in einer Berghöhle wohlgemute Geister sich erlustigen.
Es ist dies eine Einstimmung auf den Besuch der berühmten Baumannshöhle am nächsten Tag. Er läßt sich herumführen, mit Fackeln leuchtet man ihm ins Dunkle, und er kriecht auf allen Vieren in den engen Gängen herum.
Freilich verschwanden vor dem ruhigen Blick alle die Wunschbilder, die sich eine düster wirkende Einbildungskraft so gern aus formlosen Gestalten erschaffen mag; dafür blieb auch das eigne wahre desto reiner zurück, und ich fühlte mich dadurch gar schön bereichert.
Der solcherart Bereicherte, der sich eben noch durch Wind und Wetter und Finsternis durchgekämpft hatte, notiert im Tagebuch zu diesen Erkundigungen:
Dem Geier gleich
. So aber beginnt auch die »Harzreise im Winter«:
Dem Geier gleich, / Der auf schweren Morgenwolken / Mit sanftem Fittich ruhend / Nach Beute schaut, / Schwebe mein Lied. // Denn ein Gott hat / Jedem seine Bahn / Vorgezeichnet, / Die der Glückliche / Rasch zum freudigen / Ziele rennt:
〈...〉
Das erste Ziel – die Erkundigungen beim Bergbau – ist erreicht, jetzt wird das zweite angesteuert. In Wernigerode lebt der arme Plessing, den aufzusuchen er sich vorgenommen hatte. Im Gedicht folgt auf die zitierte Eingangspassage unmittelbar der Hinweis auf diese nächste Station: 〈...〉
Wem aber Unglück / Das Herz zusammenzog / Er sträubt vergebens / Sich gegen die Schranken / Des ehrenen Fadens / Den die doch bittre Schere / Nur einmal löst
. Und noch einmal wird zwei Strophen später des Unglücklichen gedacht:
Aber abseits wer ist’s? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad / Hinter ihm schlagen / Die Sträuche zusammen / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt ihn. // Ach wer heilet die Schmerzen / Des, dem Balsam zu Gift ward? / Der sich Menschenhaß / Aus der Fülle der Liebe trank, / Erst verachtet, nun ein Verächter / Zehrt er heimlich auf /
Seinen eignen Wert / In ungnügender Selbstsucht
.
Goethe hatte vor dieser Begegnung mit Plessing einige Scheu zu überwinden gehabt.
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