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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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unwissend in allen Naturstudien nach Weimar, und erst durch das Bedürfnis, dem Herzog bei seinen mancherlei Unternehmungen, Bauten, Anlagen, praktische Ratschläge geben zu können, trieb mich zum Studium der Natur. / Ilmenau hat mir viel Zeit, Mühe und Geld gekostet, dafür habe ich aber auch etwas dabei gelernt und mir eine
Anschauung
der Natur erworben, die ich um keinen Preis vertauschen möchte.
    Der Begriff der Natur war, wie wir uns erinnern, in der Periode des ›Sturm und Drang‹ ein Fanal, ein Bekenntnis. Im »Werther« gibt es das Hin und Her zwischen inniger Verschmelzung und abstoßender Kälte, in dem Hymnus »Ganymed« ist die Natur
Umfangend umfangen
, und in dem Gedicht »Das Göttliche« heißt es:
Denn
unfühlend / Ist die Natur
. Diesen schwankenden Gefühlsbezug versucht er nun zu überwinden und so zu einem nüchternen, sachlichen und pragmatischen Verhältnis zu gelangen. Aber das bedeutet nicht, daß er die Natur wie ein fremdes Objekt von sich wegrückt. Es sind die Sinnesorgane, die Natur am eigenen Leibe also, die ihn mit der äußeren Natur in Verbindung bringen sollen. Er will in einen lebendigen Austausch mit der Natur treten. Dabei ist er durchaus bereit, sich beim Gebrauch dieser Organe disziplinieren zu lassen durch die empirischen Forschungen. Beobachtung, Anschauung ist alles, aber es soll eine kontrollierte Beobachtung und geprüfte Anschauung sein. Spekulationen und Abstraktionen, die sich vom Boden der empirischen Erfahrung lösen, sind ihm suspekt. So ist es zu verstehen, wenn er Ende 1780 an den Herzog von Sachsen-Gotha schreibt, daß
der anschauende Begriff dem wissenschaftlichen unendlich vorzuziehen
sei.
    Diesen Brief hat Goethe in der ersten Phase seiner Naturstudien geschrieben. Noch wird der Gegensatz zwischen dem anschauenden und dem wissenschaftlichen Begriff schroff formuliert. In dem Maße aber, wie er sich in die einzelnen Wissensgebiete hineinarbeitet, grenzt er sich nicht mehr so streng von der Wissenschaftlichkeit ab, sondern plädiert für eine von Anschaulichkeit getragene Wissenschaft. Das Ideal ist für ihn der sorgfältige Beobachter.
Weder Fabel noch Geschichte
, heißt es in demselben Brief,
weder Lehre noch Meinung halte ihn ab zu schauen
. Man darf nicht mit zu vielen Ideen an die Natur herantreten, sonst geht der freie Blick verloren; doch ohne eine Idee geht es auch nicht, dann sieht man nämlich gar nichts. Eine leitende Idee ist für ihn der Entwicklungsgedanke, der besagt: Auch die Natur hat ihre Geschichte. Das war damals noch kein selbstverständlicher Gedanke. Die Fossilien, die Abdrücke in den Steinen faszinieren ihn, er gräbt sie aus, sammelt sie. Er erkundet die Gesteinsschichten im Harz und in der näheren Umgebung. Sie erzählen ihm die Geschichte der Erde. Ehe er, wie später, die neptunische Allmählichkeit bevorzugt, ist er jetzt noch durchaus offen für die vulkanische Dramatik:
Wenn man nun nimmt, daß die Vulkane sodann rechts bis Cassel hinauf und weiter links bis Frankfurt, ja bis Andernach fortgehen, so würde es eine in der Folge höchst interessante Untersuchung werden, ob und wie sich die ungeheure vulkanische Wut des gedachten großen Erdstriches an dem unerschütterlichen Grundgebirge des Thüringerwaldes gebrochen und dieses ihm gleichsam wie ein ungeheurer Damm widerstanden.
Typisch Goethe: seine Gegend um Weimar soll erdgeschichtlich dem vulkanischen Treiben endlich Einhalt geboten haben! Hier ist offenbar ein tüchtiger Genius Loci am Werk.
    Naturgeschichte studierte Goethe auch auf dem Gebiet der vergleichenden Anatomie, die Justus Christian Loder lehrte, den er nach Jena hatte berufen lassen, um ihn in der Nähe zu haben. An der Weimarer Zeichenakademie hielt Goethe selbst vom November 1781 bis Januar 1782 Vorlesungen über den menschlichen Knochenbau, wobei er, wie er an Lavater schreibt,
die Knochen als einen Text
behandelt,
woran sich alles Leben und alles menschliche anhängen läßt
. Die leitende Idee war auch hier die Geschichte, die Idee von der großen Kette der Lebewesen, näherhin war es die Frage: in welchen Stufen hat der Mensch sich aus dem Tierreich entwickelt. Um die Gestaltenreihe zu schließen, fehlte ihm noch der Zwischenkieferknochen, der sich beim Affen zeigt, aber offenbar nicht beim Menschen. Goethes Vermutung war, daß er sich beim Menschen bereits im vorgeburtlichen Stadium zurückbildet. Im März 1784 bekommt er den Schädel eines Embryos in die Hand. Daran findet er eine kaum sichtbare

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