Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Nahtstelle, die er als die Spur des Zwischenkieferknochens deutet.
Ich habe eine solche Freude, daß sich mir alle Eingeweide bewegen
, schreibt er an Charlotte, und an Herder:
Ich habe gefunden – – weder Gold noch Silber, aber was mir eine unsägliche Freude macht – das os intermaxillare am Menschen!
〈...〉
Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen
. Die Fachwelt war zunächst skeptisch, obwohl ein anderer Forscher in Frankreich schon vorher die Existenz eines Zwischenkieferknochens beim Fötus postuliert hatte. Nur Loder nahm Goethes Entdeckung in sein »Handbuch der Anatomie« auf. Anschließend beschäftigte sich Goethe mit dem Horn des Rhinozeros und ließ sich sogar einen Elefantenschädel schicken, den er in seinem Zimmer versteckte, damit ihn die Haushälterin nicht für toll hielte.
Wenn die Natur eine Geschichte hat, so bedeutet das für ihn auch: sie ist noch gar nicht mit sich fertig. Die Geschichte geht weiter, und sie geht nun auch mit dem Menschen weiter. Daß der Mensch die Augen aufschlägt und sie erkennen kann, ist das jüngste Kapitel dieser Geschichte. Die Natur hat sich in uns ein Erkenntnisorgan geschaffen, um sich selbst sehen und erkennen zu können. Dieser Erkenntnisakt ist für Goethe schon fast eine Art von Liebesverhältnis. Deshalb sein Beharren auf dem Gebrauch der Sinnesorgane.
Einem Gelehrten von Profession traue ich zu daß er seine fünf Sinnen ableugnet. Es ist ihnen selten um den lebendigen Begriff der Sache zu tun, sondern um das was man davon gesagt hat
, schreibt er an Merck.
Naturerkenntnis gehört zur ganzen Person und bleibt deshalb verbunden mit den sonstigen Neigungen und Fertigkeiten, dem Zeichnen und dem Dichten etwa. Goethe nutzte seine zeichnerischen Talente beim Skizzieren und Typisieren von Landschaftsformen, Gesteins- und Blumenarten und von anatomischen Verhältnissen bei Mensch und Tier. Seit 1782 ist in den Briefen von seinem Vorhaben die Rede, er wolle einen »Roman des Weltalls« schreiben. Vielleicht sollte der bereits zitierte Text über den »Granit« zu einem Kapitel dieses »Romans« werden.
Dichten und Erkennen sind für Goethe noch nicht so getrennt, wie es bei der späteren Wissenschaftskultur der Fall sein wird. Er strebte sowohl als Dichter wie als Naturforscher nach einer Wahrheit, bei der einem Hören und Sehen eben nicht vergeht. Später, bei der Arbeit an der »Farbenlehre«, wird er in der Auseinandersetzung mit Newton gegen Apparaturen der Lichtbrechung poltern, es gelte
die Phänomene ... ein für allemal aus der düstern empirisch-mechanisch-dogmatischen Marterkammer
zu befreien.
Der Mensch an sich selbst
, wird er einmal an Zelter schreiben,
in sofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat den es geben kann.
Einstweilen aber ließ er sich die Unterstützung durch Wahrnehmungsprothesen, wie Fernrohre oder Mikroskop, gerne gefallen. Ein Mikroskop gebrauchte er, um die Infusionstierchen beobachten zu können. Zeitweilig war er ganz versessen darauf. Manche spotteten über seine neue Leidenschaft, er aber gab den Spott zurück:
Was machst du alter Metaphysikus?
fragt er Jacobi und fährt fort:
Wenn dir mit Infusionstierchen gedient wäre könnte ich dir einige Millionen verabfolgen lassen
. Ein andermal schreibt er ironisch an ihn:
Dagegen hat dich aber auch Gott mit der Metaphysik gestraft und dir einen Pfahl ins Fleisch gesetzt, mich dagegen mit der Physik gesegnet, damit mir es im Anschauen seiner Werke wohl werde
.
In die Zeit, da Goethe sich intensiv seinen naturwissenschaftlichen Studien zuzuwenden begann, fällt auch, damit sachlich zusammenhängend, die Wiederannäherung an Herder, den er 1776 nach Weimar geholt hatte, der ihm dann aber zunehmend ferngerückt war. Herder bekleidete zwar ein gut dotiertes Amt als höchster geistlicher Beamter des Herzogtums, doch er war nicht zufrieden damit. Seine Verbindungen zum Hof waren nicht so eng wie die Goethes. Er suchte sie auch nicht, zog sich vielmehr vornehm und grollend zurück. Er litt darunter, daß der Herzog und auch Goethe kaum seine Gottesdienste besuchten und sich um das Schulwesen, dem er vorstand, nur wenig kümmerten und vor allem kein Geld dafür bereitstellten. Die Einrichtung eines Lehrerseminars zum Beispiel war längst beschlossen, und Herder hatte die Umsetzung schon häufig angemahnt, doch es geschah nichts. Herder empfand das als persönliche Beleidigung. Auch
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