Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Die anderen Kommissionen, denen er noch eine Weile lang formell vorstand, wurden fachgerecht geleitet. Viel Arbeit hatte er nicht mehr damit. Er beschränkte sich auf seltene Visitationen, was ihm überhaupt das Liebste war: Sich ein Bild der Situation machen, sie verstehen, eingreifen, disponieren – und dann zuschauen, wie die Dinge und Angelegenheiten wachsen und gedeihen. Es gab allerdings eine zusätzliche Verpflichtung, das Amt der ›Oberdirektion‹ des neu begründeten Hoftheaters. Diese Aufgabe empfand er jedoch nicht als belastend. Er erledigte sie anfangs fast im Stil einer Liebhaberei.
Goethe hatte Zeit gewonnen für Wissenschaft und Kunst, so wie er es sich noch von Rom aus in einem Brief an den Herzog gewünscht hatte:
Nehmen Sie mich als Gast auf, lassen Sie mich an Ihrer Seite das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen und des Lebens genießen; so wird meine Kraft, wie eine nun geöffnete, gesammelte, gereinigte Quelle von einer Höhe, nach Ihrem Willen leicht dahin oder dorthin zu leiten sein.
Der Herzog soll ihm die äußere Sicherheit und die angemessene Höhenlage für die Entfaltung seiner Kräfte geben. Der Nachdruck liegt auf dem individuellen Aspekt –
das ganze Maß meiner Existenz ausfüllen
, schreibt er. Er möchte sich nicht mit etwas abplagen, das andere womöglich besser können, die Routineaufgaben in der Verwaltung etwa, sondern er wünscht sich Freiraum für das, was er am besten kann. So würde er, indem er sein Leben
ausfüllt
zugleich das Leben und den Lebensraum des Herzogs
zieren
. Selbstverwirklichung als öffentliche Dienstleistung also.
Nun ist aber die gesellschaftliche Ordnung, die Goethe diese individuelle Entfaltung ermöglicht, neuerdings bedroht und aufgewühlt, zunächst noch nicht in Deutschland, aber drüben im Frankreich der Großen Revolution. Die meisten Zeitgenossen sind sofort überzeugt, daß die Ereignisse dort von weltgeschichtlicher Bedeutung sind und noch bei künftigen Generationen Entsetzen und Bewunderung hervorrufen werden; Ereignisse, die im Augenblick des Geschehens bereits in mythischem Glanz erstrahlen und als Urszene der Geburt eines neuen Zeitalters gedeutet werden, Ereignisse, die Tag für Tag, Woche für Woche überall notiert, diskutiert und auch ausgeschrien werden: Der ›Ballhausschwur‹ am 20. Juni 1789, als die Deputierten des Dritten Standes sich als Nationalversammlung konstituieren und mit den Worten des großen Mirabeau ihre Absicht beschwören, beieinander zu bleiben, bis die neue Verfassung beschlossen ist; das Gerücht der Gegenrevolution und die darauf folgende Erstürmung der Bastille am 14. Juli; das Wüten der Lynchjustiz, die ersten Aristokraten an der Laterne, die Bildung der Nationalgarde; der König, der sich vor ihr verbeugt und die Kokarde nimmt; das Fest der Föderierten im Jahr darauf auf dem Marsfeld, die größte Menschenversammlung, welche die Geschichte bis dahin gesehen hat; dann der revolutionäre Sturm, der durch das Land fegt; die Revolte der Bauern, die ›große Furcht‹, die das Land in Atem hält; der Beginn der Emigration des Adels, die ›Zierde‹ des alten Frankreich auf den verschlammten Straßen in Richtung Deutschland; die mißlungene Flucht des Königs, seine Inhaftierung, der Prozeß gegen ihn und die Hinrichtung; die Schreckensherrschaft der Jakobiner; die militärische Mobilisierung der Volksmassen; die Kriege, in denen die Revolution sich zuerst verteidigt gegen die Allianz der alten Mächte und dann zum Gegenangriff übergeht.
Das waren ungeheure Ereignisse, die in Deutschland zunächst die Köpfe bewegten – in Weimar nahmen besonders Wieland und Herder lebhaften Anteil –, bis man die praktischen Auswirkungen zu spüren bekam. Im Rückblick notierte Goethe, er habe viele Jahre gebraucht,
dieses schrecklichste aller Ereignisse in seinen Ursachen und Folgen dichterisch zu gewältigen
, er sei nicht davon losgekommen, auch nicht, indem er zu seinen Pflanzen, Knochen und Farben floh, das Schlimmste aber:
die
Anhänglichkeit an diesen unübersehlichen Gegenstand
habe sein
poetisches Vermögen fast unnützerweise aufgezehrt.
Wenn auch die Ereignisse ihm
schrecklich
waren, ihr überwältigendes Pathos konnte er doch ganz gut nachempfinden. In »Herrmann und Dorothea« heißt es:
Denn wer leugnet es wohl, daß hoch sich das Herz ihm erhoben, / Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen, / Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, / Als man hörte vom Rechte der Menschen,
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