Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Schreckens, den ihm die Revolution einjagte: Die von ihr ausgelöste allgemeine Politisierung.
Politik war bis dahin Aufgabe des Adels gewesen; ob es Krieg gab oder Frieden, ob man arm war oder passabel gut lebte, wurde wie das Wetter als schicksalhaft hingenommen. Nun aber politisieren und mobilisieren sich die Massen. Goethe ist das unheimlich:
Zuschlagen muß die Masse, / Dann ist sie respektabel, / Urteilen gelingt ihr miserabel.
Politische Meinungen, wenn sie über die eigene Erfahrung und Verantwortung hinausgehen, taugen nichts, man sollte ihnen nicht trauen, auch dann nicht, wenn es die eigenen sind:
Unser Anteil an öffentlichen Angelegenheiten ist meist nur Philisterei.
Der hochbelesene Goethe konnte spotten über die Vielleser und über die Leute, die urteilsfroh, aber nicht urteilsstark sind, die Meinungsmacher eben. Nicht jede Neugier findet seinen Beifall. Wer nur sich selbst suche, könne sich nicht finden.
Tätigkeit gegen die Außenwelt
sei nötig und ruhige und sorgfältige Beobachtung:
Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt
〈...〉
Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schließt ein neues Organ in uns auf.
Der Nachdruck liegt auf dem
wohl beschaut
, damit ist auf eine Wirklichkeitsbeziehung verwiesen, die welthaltiger ist als das aufgeregte Meinungsunwesen.
Zwar kann sich Goethe von den Einflüssen des politisierenden Zeitgeistes nicht ganz freihalten – immerhin kauft er für den Sohn August eine Spielzeugguillotine –, aber er ist fest entschlossen, seine Zuflucht vor dem Umtrieb in der Naturforschung mit ihren ruhigen Betrachtungen zu suchen.
Indes attachiere ich mich täglich mehr an diese Wissenschaften
〈der Optik und der Farben〉
, und ich merke wohl daß sie in der Folge mich vielleicht ausschließlich beschäftigen werden
. Ganz so war es dann doch nicht; die Kunst und die Literatur bildeten für ihn, neben der Naturbeobachtung, die zweite Schutzwehr gegen den aufgeregten Zeitgeist.
Von den unruhigen politisierten Zeitumständen herausgefordert, verfolgt Goethe unbeirrt das Ziel seiner individualistischen Persönlichkeitsbildung. Im »Wilhelm Meister«-Roman, an dem er wieder zu arbeiten beginnt, läßt er seinen Protagonisten Wilhelm in einem Brief an seinen Freund Werner über das Problem nachdenken, ob auch ein bürgerlicher Mensch zu einer
harmonischen Ausbildung
seiner Persönlichkeit gelangen könne. Von Ausnahmen abgesehen, schreibt Wilhelm, sei das eigentlich nur den Edelleuten möglich. Ihre Selbstsicherheit gründet auf ihrem Sein, und nicht auf Besitz und Leistung. Die Selbstsicherheit gibt den Lebensäußerungen einen Stil, der nicht eingeübt und angestrengt wirkt, sondern selbstverständlich und spontan. Der
vornehme Anstand
wird zum
freien Anstand
, und wie von selbst stellt sich das Gleichgewicht im Verhalten her, die
gewöhnlichen Dinge
werden mit
feierlicher Grazie
und die ernsten mit
leichtsinniger Zierlichkeit
behandelt. Der bürgerliche Mensch hingegen hat immer alles noch außer sich, er strebt nach Besitz, entwickelt seine Fähigkeiten, erbringt Leistungen. Der eine
wirkt
, der andere
dient
. Der Bürger ist nie bei sich selbst, sondern immer draußen bei den Sachen, die er betreibt, und bei den Verpflichtungen, die ihm obliegen, und wenn er von sich aus etwas gelten will, so kommt es prätentiös heraus, man spürt die Absicht und ist verstimmt. Es ist aber die
Verfassung der Gesellschaft
, die den Bürger zum Bürger und den Edelmann zum Edelmann macht, nicht nur äußerlich sondern von innen heraus. 〈...〉
ob sich daran einmal was ändern wird und was sich ändern wird
, heißt es in Wilhelm Meisters Brief,
bekümmert mich wenig; genug, ich habe wie die Sachen jetzt stehen, an mich selbst zu denken, und wie ich mich selbst und das was mir ein unerläßliches Bedürfnis ist, rette und erreiche. Ich habe nun einmal gerade zu jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt, eine unwiderstehliche Neigung.
In einem Augenblick, da zum Angriff gegen die Aristokratie geblasen wird, bekundet Goethe seine Wertschätzung des aristokratischen Stils. Er weiß nur zu genau, daß die im Roman beschriebene bürgerliche Unbeholfenheit auch die seine ist. Es gibt zahlreiche zeitgenössische Schilderungen von Goethes steifen, formellen und ungeschickten Verhaltensweisen bei höfischen und offiziellen Anlässen. Das Angelernte, Beflissene und darum Verkrampfte war auffällig. Ihm fehlte, was er an den geborenen Edelleuten
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