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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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wollte die Hörer zum Denken zwingen. Jetzt, in diesem Augenblick sollte sich in ihren Köpfen das Denken vollziehen und damit die Selbstergreifung des denkenden Ichs. Berühmt war Fichtes Wandexperiment: Man solle sich zunächst die Wand denken, und anschließend sich selbst als das davon Unterschiedene. Damit wollte Fichte die Hörer aus ihrer gewöhnlichen Selbstversteinerung herauslösen, denn es ist, besonders unter Wissenschaftlern, der bequemste Weg, sich selbst wie ein Ding zu behandeln. Selbstverdinglichung ist das geheime Prinzip des Materialismus. Fichte aber wollte das lebendige Ich erfahrbar machen. Der Mensch sei leichter dahin zu bringen, pflegte er zu sagen, sich für ein Stück Lava vom Mond als für ein lebendiges Ich zu halten.
    Fichtes kraftvolle Auftritte wirkten wie ein Blitz. Selbstverständlich gehörte die Französische Revolution, über die Fichte auch zwei Verteidigungsschriften veröffentlichte, zum geistigen Hintergrund dieser exzessiven Freiheitsphilosophie. Durch Fichte bekam das Wort ›Ich‹ ein ungeheures Volumen, nur vergleichbar mit jener Bedeutungsfülle, die später Nietzsche und Freud dem ›Es‹ zuteil werden ließen. Bemerkenswert ist, daß Goethe an Fichte überhaupt einigen Gefallen fand, denn dessen revolutionäre Sympathien konnten ihm eigentlich nicht zusagen. Er sah darüber hinweg, was ihm der Herzog später bei Fichtes Entlassung in der Folge des Atheismus-Konfliktes, zum Vorwurf machen wird. An Fichtes Philosophie schätzte er die energische Betonung der Tätigkeit und des Strebens, den starken Willen und den Gestaltungsimpuls. Er wirkte nicht mit seinen subtilen und abstrakten Ableitungen, sondern mit der kühnen Thronerhebung des schöpferischen Ichs. Goethe war bereit, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis in den Umkreis seiner Betrachtungen aufzunehmen. Erste Spuren davon zeigten sich in der Farbenlehre. Er nahm die Physiologie der Farbwahrnehmung stärker in den Blick und bekannte sich in dieser Zeit zu dem Grundsatz, man habe sich stets zu fragen:
Ist es der Gegenstand oder bist du es, der sich hier ausspricht?
Goethe ließ sich aus der Druckerei den ersten Bogen der »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre« kommen, las ihn sofort und schrieb an Fichte, er enthalte nichts,
das ich nicht verstände oder wenigstens zu verstehen glaubte, nichts, das sich nicht an meine gewohnte Denkweise willig anschlösse.
〈...〉
Was mich betrifft, werde ich Ihnen den größten Dank schuldig sein, wenn Sie mich endlich mit den Philosophen versöhnen, die ich nie entbehren und mit denen ich mich niemals vereinigen konnte.
Fichte nahm das nicht nur als höfliches Kompliment, er fühlte sich wirklich von Goethe verstanden. An seine Frau schrieb er über Goethe: »Neulich hat er mir mein System so bündig und klar dargelegt, daß ich’s selbst nicht hätte klarer darstellen können.«
    Goethes Annäherung an die Philosophie hatte noch eine andere Wirkung von großer Tragweite. Sie bahnte bei Goethe einen inneren Weg für das epochale Ereignis im Sommer dieses Jahres: den Beginn der Freundschaft mit Schiller. Durch Fichte war es Goethe möglich geworden, gerade das Philosophische an Schiller als attraktiv zu empfinden.
    Die beiden waren seit jener mißlungenen Begegnung im Herbst 1788 nur selten in Verbindung getreten. Zwar hatte Goethe Schillers Berufung nach Jena betrieben, aber Schiller konnte ihm nicht rundweg dankbar dafür sein, war doch die finanzielle Ausstattung zu bescheiden, eigentlich sogar demütigend. Gleichwohl machte Schiller viel aus seiner Position in Jena. Legendär seine Antrittsvorlesung im Sommer 1789. So viele Zuhörer hatte bis dahin noch kein Professor um sich versammelt. Mit Schiller begann der Aufstieg Jenas. Am Ende des Jahrhunderts wird Jena für kurze Zeit der Hauptort des Deutschen Idealismus und der Romantik sein. Ein paar Jahre später erwog Napoleon, Jena in den Rang einer Zentraluniversität der Rheinbundstaaten zu erheben. Schiller hatte großen Anteil an der Strahlkraft Jenas. Das stärkte sein Selbstbewußtsein, und darum brauchte er nicht mehr auf verkrampfte Weise um Goethe zu werben. An einer fruchtbaren Begegnung, zu der es beim ersten Mal nicht kam, war ihm weiterhin gelegen, doch sollte sie sich zwanglos ergeben, sachlich begründet, ohne persönliche Prätention. Schiller hatte sich, wie er damals an seine Schwägerin Karoline schrieb, die eifersüchtigen Seitenblicke auf Goethe abgewöhnen wollen. Sie lähmen nur und

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