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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt.
Das ist eine Formulierung aus der »Italienischen Reise«, doch so ähnlich wird er Schiller gegenüber das Blatt als ein Urphänomen des Pflanzenhaften dargestellt haben. Von diesem Urphänomen aber soll gelten, daß man es sehen kann. Das Blatt als der ominöse
Proteus
, ist etwas durchaus Anschauliches und eben nicht nur eine Idee. Von diesem Punkt aus folgert Goethe: Könnte es nicht sein, daß es eine Art musterhafte Verwirklichung dieser aus dem Blatt sich entwickelnden Pflanze gibt, eben die Urpflanze. In der »Italienischen Reise« heißt es dazu:
Eine solche
〈Urpflanze〉
muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wären
.
    Diesen Gedankengang wird Goethe, von Schillers Fragen herausgefordert, wohl entwickelt haben. In der Schilderung des »Glücklichen Ereignisses« heißt es dazu nur,
da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor
. Es ging dabei so
lebhaft
zu, daß er darüber alles vergaß und sich unversehens in Schillers Wohnung wiederfand. Schiller selbst aber bewies immerhin so viel Übersicht, daß er seinen entflammten Gesprächspartner sachte dorthin lenkte. Und da saßen sie nun beieinander. Vielleicht brachte Charlotte kühlende Getränke. Denn, wie gesagt, draußen war es heiß, und das Gespräch hitzig. Goethe war mächtig in Fahrt, griff nach Papier und Feder,
und ließ,
mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen.
Schiller jedoch beharrte auf dem Ausgangspunkt des Gesprächs, auf der Frage nämlich: Ist es eine Idee oder ein konkret anschauliches und erfahrbares Objekt, das den inneren Zusammenhang verbürgt. Für Schiller konnte es nur eine Idee sein, und auf Goethes Zeichnung der symbolischen Pflanze hinweisend sagte er:
Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.
Damit war, schreibt Goethe, der
Punkt der uns trennte
〈...〉
aufs strengste bezeichnet
. Wenn auch Goethe sich geistesgegenwärtig und witzig auf die Bemerkung zurückzieht:
das kann mir sehr lieb sein daß ich Ideen habe ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe
, so bleibt doch die Differenz bestehen:
keiner von beiden konnte sich für den Sieger halten, beide hielten sich für unüberwindlich.
    Warum konnte diese Begegnung, die in der Hauptsache ein leidenschaftliches Austragen einer Differenz war, zur Urszene einer Freundschaft werden? Vielleicht gerade deshalb. Es handelte sich nämlich um eine Differenz, bei der die differenten Pole sich wechselseitig mächtig anzogen, als würde jeder beim anderen das für die eigene Ganzheit erforderliche Gegenstück finden können. So jedenfalls hat Goethe im späten Rückblick das Verhältnis zwischen ihm und Schiller gedeutet:
Selten ist es aber daß Personen gleichsam die Hälfte von einander ausmachen, sich nicht abstoßen, sondern sich anschließen und einander ergänzen.
Wenn bei dem einen alles zur Idee und beim anderen alles zur Anschaulichkeit drängt, so wird jeder dem anderen von dem Seinen etwas geben können: das Ideelle wird sinnlicher und das Anschauliche wird geistiger werden können.
    An diesem schönen Sommernachmittag des Jahres 1794 war es geschehen, daß die bisher latente wechselseitige Anziehungskraft sich endlich frei auswirken konnte, unterstützt durch anderweitige günstige Umstände, die Goethe nicht zu erwähnen versäumt; seine langjährige Vertrautheit mit Schillers Charlotte, geborene von Lengefeld, die Patentochter der Frau von Stein; das gemeinsame Interesse an den »Horen«, das gute Zureden anderer Freunde, womit Goethe vor allem Wilhelm von Humboldt meinte, der bei ihm für Schiller geworben hatte.
    Das zweite Treffen fand zwei Tage später denn auch bei den Humboldts statt. Für Schiller war das die noch bedeutsamere Begegnung. Er datierte die Freundschaft von diesem Tage an. Am Sonntag war es um Natur gegangen, am Dienstag bei Humboldts um Kultur. Überwog beim Thema Natur die Differenz, so fand man bei der Kultur mehr Übereinstimmung, wenngleich auf verschiedenen Wegen. Davon erzählt Schiller einige Wochen später seinem Freund Körner. »Wir hatten 〈...〉 über Kunst und Kunsttheorie ein langes und breites gesprochen, und uns die Hauptideen mitgeteilt, zu denen wir auf ganz verschiedenen Wegen gekommen waren. 〈...〉 Ein jeder konnte dem

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