Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Sinnen und Entschließen womit ich künftiges Jahr anfangen will, man muß sich mit Gewalt an etwas heften. Ich denke es wird mein alter Roman werden
. Das Romanprojekt, das begleitete ihn nunmehr fast zwei Jahrzehnte.
Um sich selbst unter Druck zu setzen, schloß er mit dem Verleger Johann Friedrich Gottlieb Unger Anfang 1794 einen sehr lukrativen Vertrag. Er verpflichtete sich, vier Bände zu jeweils zwei Büchern zu liefern, und jeder Band sollte mit 600 Talern vergütet werden; zweitausendvierhundert Taler für einen Roman, das war damals ein exorbitant hohes Honorar. Wenn Goethe es forderte und auch erhielt, so zeigte das, daß er sich seines Marktwertes sicher sein konnte. Das relativiert die in manchen Briefen aus dieser Zeit angestimmten Klagen, man habe ihn inzwischen so gut wie vergessen. Entweder glaubte er das selber nicht, oder er rechnete damit, das Publikum mit diesem großen Roman wieder zurückgewinnen zu können. Ein großer, gewiß aber ein umfangreicher Roman sollte es werden. Zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeichnung war Goethe dabei, die ursprüngliche Fassung von »Wilhelm Meisters Theatralischer Sendung« umzuarbeiten. Es blieb noch viel zu tun. Von den geplanten acht Büchern waren erst viereinhalb fertig. Das Jahr 1794 sollte also vor allem im Zeichen der Arbeit an dem Roman stehen. Auch aus diesem Grund orientierte er sich stärker nach Jena. Dort konnte er, weniger abgelenkt durch die Familie und den Hof, ungestörter arbeiten. Er richtete sich im alten Schloß seine Arbeitsklause ein.
Auch sonst war Jena für ihn wichtiger geworden. Es gab neue Freunde am Ort, vor allem Wilhelm von Humboldt, der Schillers wegen Anfang 1794 nach Jena gezogen war und alles tat, um Goethe für den gegenwärtig auf Besuch in Schwaben weilenden Schiller günstig zu stimmen. Zu Besuch bei Wilhelm war der jüngere Bruder Alexander. Goethe war von den umfassenden Kenntnissen des jungen Naturforschers und Oberbergrates tief beeindruckt, eine Gesprächsstunde mit ihm gebe für eine ganze Woche Vorrat zum Nachdenken, sagte er. Am liebsten hätte er Alexander sogleich für Jena verpflichtet, aber der hatte andere Pläne. Goethe kümmerte sich nun lebhaft um die Angelegenheiten der Universität, vom Aufbau des botanischen Instituts war schon die Rede. Er betrieb aber auch den Ausbau und die Neuordnung der Bibliotheksbestände und hielt Ausschau nach aufstrebenden jungen Wissenschaftlern. Er zog den Historiker Karl Ludwig Woltmann nach Jena.
Besonders stolz aber war er darauf, nach Abgang des Kantianers Karl Leonhard Reinhold den neuen Stern am Philosophenhimmel, Johann Gottlieb Fichte, für Jena gewonnen zu haben. Fichte hatte innerhalb weniger Wochen, nach einem Besuch bei Kant, eine Schrift verfaßt, »Versuch einer Kritik aller Offenbarung«, in der er, deutlicher als der Meister selbst, die religionsphilosophischen Konsequenzen aus Kants Philosophie zog: Moral gründet nicht in der Religion, sondern begründet sie. Es gibt keine anderen Offenbarungen als die des Gewissens. Kant war von diesem Werk so beeindruckt, daß er den Verfasser nicht nur zum Mittagessen einlud. Er besorgte ihm auch einen Verleger. Im Frühjahr 1792 erschien das Buch des Dreißigjährigen, anonym. Der Verleger hoffte, daß man das Werk Kant zuschreiben würde, so sehr war es aus seinem Geist gearbeitet. Es geschah. Das Werk galt als das entscheidende Wort Kants zur Religion, worauf man schon eine Weile gewartet hatte. Kant mußte die Sache richtigstellen. Er ließ in der in Jena erscheinenden »Allgemeinen Literatur-Zeitung« mitteilen, nicht ihm gebühre die Ehre, der Verfasser dieser Schrift zu sein, sondern dem bislang noch unbekannten Fichte. Fichte war mit einem Schlag berühmt, und nun gab es für ihn kein Halten mehr: Er wagte sich an die Umwälzung der ganzen bisherigen Philosophie. Er radikalisierte den Kantschen Freiheitsbegriff. In seiner »Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre«, die er zum ersten Mal im Sommer 1794 in Jena vortrug, zieht er aus dem Kantschen Satz »das ›ich denke‹ muß alle meine Vorstellungen begleiten können« den Begriff eines allmächtigen Ichs heraus, das die Welt als trägen Widerstand oder als möglichen Stoff seiner »Tathandlungen« erfährt. Das mochte zunächst verstiegen und überaus abstrakt wirken. Nicht so, wenn Fichte es vortrug. Sein hinreißendes Rednertalent begeisterte und riß die Leute mit, auch wenn sie nicht alles verstanden. Fichte sprach nicht über Gedanken, sondern er
Weitere Kostenlose Bücher