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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Einfluß, ihn aus dem stillen Hafen der wenig erfolgreichen Göschen-Ausgabe wieder in die offene See der größeren Literaturöffentlichkeit hinauslotsen würde. Eine publizistische Offensive, die vielleicht auch dem demnächst erscheinenden »Wilhelm Meister«-Roman nützlich werden könnte, wenn auch ein Vorabdruck in den »Horen« nach Vertragsunterzeichnung nicht mehr möglich war. Und doch zögert Goethe eine Weile mit der Antwort, vielleicht weil er ahnte, daß etwas anfängt, was er zwei Monate später eine neue »Epoche« in seinem Leben nennen wird. Mit Sorgfalt – es haben sich mehrere Briefentwürfe erhalten – formuliert er seine Antwort in einer Mischung aus Diplomatie und Konfession:
Ich werde mit Freuden und von ganzem Herzen von der Gesellschaft sein. Sollte unter meinen ungedruckten Sachen sich etwas finden das zu einer solchen Sammlung zweckmäßig wäre, so teile ich es gerne mit; gewiß aber wird eine nähere Verbindung mit so wackern Männern, als die Unternehmer sind, manches, das bei mir ins Stocken geraten ist, wieder in einen lebhaften Gang bringen.
    Das ist überhaupt der erste Brief Goethes an Schiller. Der freut sich, einen so prominenten Mitarbeiter für sein Projekt gewonnen zu haben. Daß er dabei ist, einen unvergleichlichen Freund zu gewinnen, ahnt er noch nicht. An Körner schreibt Schiller über Goethes Zusage: »Überhaupt läßt es sich zu einer auserlesenen Sozietät an, dergleichen in Deutschland noch keine zusammengetreten ist«. Goethe kommentiert zur selben Zeit die neue Verbindung erfreut, doch zurückhaltend:
Noch muß ich sagen, daß seit der neuen Epoche auch Schiller freundlicher und zutraulicher gegen uns Weimaraner wird.
    Doch dann kommt es zu jener Begegnung, die Goethe später ein glückliches Ereignis nennen wird. Goethe mit seinem Sinn für symbolische Bedeutsamkeit und für Spiegelungen in der eigenen Lebensgeschichte plazierte die Schilderung dieser Begegnung in den »Morphologischen Heften« im Zusammenhang der Darstellung seiner Theorie von der »Urpflanze«. Die »Urszene« der Freundschaft geschildert im Umkreis der Erörterung über die »Urpflanze« – das paßt vortrefflich zusammen. Ergänzende Sätze für die »Tag- und Jahres-Hefte« heben diesen organisch-metaphorischen Zusammenhang noch eigens hervor:
für mich war es ein neuer Frühling, in welchem alles froh nebeneinander keimte und aus aufgeschlossenen Samen und Zweigen hervorging.
    Es war am 20. Juli 1794, einem Sonntag. Goethe war nach Jena gekommen, um in der folgenden Woche wegen der »Horen« mit den Herausgebern, vor allem natürlich mit Schiller, zu sprechen. Aber er rechnete nicht damit, daß er schon zuvor, nämlich an diesem heißen Sonntagnachmittag in den kühlen Räumen des Schlosses bei einem Vortrag in der »Naturforschenden Gesellschaft« Schiller begegnen würde, der sich bei solchen Anlässen sonst nicht sehen ließ. Das Überraschende tat seine besondere Wirkung. Man begab sich nach Ende des Vortrags in plaudernden Gruppen hinaus und
zufällig
, so schildert Goethe die Szene, habe er sich plötzlich an der Seite Schillers wiedergefunden. Ein Gespräch knüpfte sich an. Schiller kritisierte das soeben Gehörte. Der Vortragende habe die Pflanzenwelt auf eine zerstückelnde Art behandelt, ohne inneren Zusammenhang und Leben. Das wissenschaftliche Interesse an der Natur werde beim Publikum auf diese Weise nicht geweckt. Goethe stimmte ihm zu, wies aber darauf hin, daß es sehr wohl Versuche gebe, das innere Leben und den Zusammenhang der Naturphänomene zu erkunden und darzustellen. Schiller räumte das ein, betonte aber, das sei nur möglich mithilfe von Ideen, die an die Erfahrung herangetragen würden. Erfahrungen selbst seien immer punktuell und würden aus sich selbst heraus keinen Zusammenhang geben. Damit war man unversehens in die strittige Zone geraten. Denn genau daran arbeitete sich Goethe zur Zeit ab: an einer Zusammenschau der Phänomene, die einen unmittelbar erfahrbaren Zusammenhang ergeben, ohne Zwang und Konstruktion, und ein Paradebeispiel dafür war ihm die Metamorphose der Pflanzen. Man muß nur genau hinsehen, so seine Überzeugung, dann würde offenbar, daß es das Blatt ist, das in den verschiedenen Formen der Pflanzen wiederkehrt und die Variabilität und Konstanz des Pflanzenhaften ausmacht.
Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich anzusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der

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