Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
andern etwas geben, was ihm fehlte, und etwas dafür empfangen. Seit dieser Zeit haben diese ausgestreuten Ideen bei Goethe Wurzel gefaßt, und er fühlt jetzt ein Bedürfnis, sich an mich anzuschließen, und den Weg, den er bisher allein und ohne Aufmunterung betrat, in Gemeinschaft mit mir fortzusetzen. Ich freue mich sehr auf einen für mich so fruchtbaren Ideenwechsel«.
Der Ideenwechsel setzte mächtig ein mit jenem berühmten ersten ausführlichen Brief Schillers an Goethe vom 23. August. Schiller hatte zunächst abgewartet, weil er ja wußte, daß Goethe die nächsten Wochen mit dem Herzog in diplomatischer Mission unterwegs sein würde. Mit bewegten Worten antwortete Goethe: Es hätte ihm kein schöneres Geburtstagsgeschenk gemacht werden können als dieser Brief,
in welchem Sie, mit freundschaftlicher Hand, die Summe meiner Existenz ziehen und mich, durch Ihre Teilnahme, zu einem emsigern und lebhafteren Gebrauch meiner Kräfte aufmuntern
.
Die
Summe meiner Existenz
– das ist eine emphatische Zustimmung und ein Kompliment an Schiller, den Porträtkünstler. Goethe fühlte sich von dem Bild gut getroffen. Schiller schilderte Goethe als einen Menschen, der seiner Beobachtungsgabe trauen darf, der mit den Augen denkt, den eine starke »Antizipation« des möglichen Zusammenhangs der Dinge leitet, der dabei aber nicht auf spekulative Abwege gerät, weil er stets Fühlung bewahrt mit der erfahrbaren Realität. Der bei den einfachsten Tatsachen und Elementen des Lebens beginnt, um Schritt für Schritt zu den verwickelten Formen beim Menschen aufzusteigen, der sich also anheischig macht, aus der elementaren Natur den Geist zu entwickeln. Am Ende könnte das vollendete Bild einer geistvollen Natur stehen, doch das Leben des Einzelnen ist zu kurz bemessen, um das Ziel zu erreichen, »aber einen solchen Weg auch nur einzuschlagen, ist mehr wert, als jeden anderen zu endigen«.
Diese Bemerkungen betreffen eher den Wissenschaftler; was aber den Poeten Goethe angeht, so ist ihm, nach Schiller, eine Bildungskraft eigentümlich, die ihr Bestes aus unbewußten Quellen schafft. »In Ihrer richtigen Intuition liegt alles und weit vollständiger, was die Analysis mühsam sucht, und nur weil es als ein Ganzes in Ihnen liegt, ist Ihnen Ihr eigener Reichtum verborgen«. Mit anderen Worten: in Goethe arbeitet ein unbewußtes Genie.
An dieser Stelle nun bringt sich Schiller ins Spiel. Er stellt sich als komplementäre, dabei durchaus auch genialische Figur dar. Wenn Goethe vom konkret Besonderen zum begrifflich Allgemeinen vordringt, so verläuft sein Weg umgekehrt: Von der begrifflich gefaßten Idee sucht er nach Verkörperung und Konkretion. Der eine verfährt induktiv, der andere deduktiv. Probleme ergeben sich für beide. Der Gedanke kann die konkrete Erfahrung verfehlen und sich im Abstrakten verflüchtigen, und umgekehrt kann die Erfahrung und Intuition bisweilen nicht zur nötigen Klarheit und Selbstdurchsichtigkeit durchdringen. Doch wenn die so verschieden gearteten Geister aufeinander hören und sich gegenseitig helfen, kann es zu glückhaften Augenblicken der wechselseitigen Ergänzung kommen. Dieser Brief ist getragen von einem euphorischen Zutrauen in ein gutes Gelingen dieser Freundschaft: Goethe wird Schiller als Spiegel des Bewußtseins gebrauchen, und Schiller wird von Goethe das Zutrauen in die Kräfte des Unbewußten und der Intuition erlernen. Das wären dann wirklich die
zwei Hälften
eines Kreises, wovon Goethe in seiner Rückschau auf die Freundschaft sprechen wird.
Goethe ließ sich auf diese Deutung ein. In seinem Antwortbrief findet sich eine Bemerkung, die allerdings nicht ohne Ironie ist:
Wie groß der Vorteil Ihrer Teilnehmung für mich sein wird werden Sie bald selbst sehen, wenn Sie, bei näherer Bekanntschaft, eine Art Dunkelheit und Zaudern bei mir entdecken werden, über die ich nicht Herr werden kann, wenn ich mich ihrer gleich sehr deutlich bewußt bin.
Goethe deutet damit bereits an, daß er Schillers Durchleuchtungskraft mit einem Vorbehalt nutzen wird. Zuviel Transparenz und Bewußtheit kann nämlich auch schädlich sein. Er wird seine
Dunkelheit
zu bewahren wissen, denn er braucht sie, wie eine Pflanze, die ihre Wurzeln in die dunkle Erde senkt.
Dieser erste
Ideenwechsel
versetzte Goethe in neugierige Erregung. Und darum lädt er Schiller am 4. September zu einem längeren Besuch nach Weimar ein. Der Hof gehe für einige Zeit nach Eisenach, man würde Ruhe und Zeit füreinander haben.
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