Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Nach einigem Zögern nimmt Schiller die Einladung an, doch mit der Warnung, er werde sich der gewöhnlichen Hausordnung nicht einfügen können, »denn leider nötigen mich meine Krämpfe gewöhnlich, den ganzen Morgen dem Schlaf zu widmen, weil sie mir des Nachts keine Ruhe lassen 〈...〉. Ich bitte bloß um die leidige Freiheit, bei Ihnen krank sein zu dürfen.«
Schiller blieb vom 14. bis zum 27. September, zwei dichte, unvergeßliche Wochen. Man erzählte sich sein Leben, schilderte die verschiedenen geistigen Wege, die man genommen hatte, und man sprach über Pläne, über Schillers Wallenstein-Projekt und seine neue ästhetische Philosophie, an der er gerade arbeitete (»Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«). Goethe trug einiges vor aus seiner Naturkunde, die Optik, Anatomie und Farbenlehre betreffend. Man besprach auch mögliche Themen für die »Horen«. Als man nach einigen Tagen schon sehr vertraut miteinander war, las Goethe aus seinen bis dahin noch nicht veröffentlichten »Römischen Elegien«, die Schiller, wie schon erwähnt, »zwar schlüpfrig und nicht sehr dezent« fand, doch zu den »besten Sachen« rechnete, die Goethe gemacht habe. Goethe erklärte sich bereit, sie in den »Horen« zuerst zu veröffentlichen. Auch über die Frage, wie das Weimarer Theater gefördert werden könnte, wurde verhandelt. Goethe bat um eine Überarbeitung des »Egmont« und versuchte Schiller davon zu überzeugen, daß es höchste Zeit sei, wieder einmal den »Fiesko« oder »Kabale und Liebe« aufzuführen.
Es waren Gespräche, die von Tag zu Tag freundschaftlicher wurden, so als wäre man schon lange miteinander verbunden, und es waren Gespräche, die nicht enden wollten: »Vor einigen Tagen«, schrieb Schiller an seine Frau, »waren wir von halb 12 wo ich angezogen war bis Nachts um 11 Uhr ununterbrochen beisammen«. An schönen Tagen überredete Goethe seinen Gast zu Spaziergängen. Dann konnte man die beiden sehen im Park und auf den Wegen die Ilm entlang, hinüber zum Gartenhaus oder zur Schloß-Baustelle. Goethe hatte immer etwas zu zeigen, und der hochgewachsene Schiller trat beflissen näher, um es zu besehen. Der eine gestikulierend, der andere die Hände auf den Rücken verschränkt und leicht vorgebeugt.
In Weimar redete man über das Beisammensein der beiden. Man empfand es als wichtiges Ereignis, wenn man sie zusammen sah. Sie selbst waren beglückt, in diesen goldenen Tagen des September 1794 einen Grund gelegt zu haben für eine vielversprechende Geschichte.
Anmerkungen
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Beiträge zu den »Horen«. Zwei Konzepte gegen den Ungeist
der Zeit: Schillers ästhetische Erziehung und Goethes gesellige Bildung.
Der »Centaur«. Gemeinsame Feldzüge gegen den Literaturbetrieb:
die »Xenien«. Schillers Geburtshilfe beim »Wilhelm Meister«.
Ein antiromantisches Werk? Das Ende der »Horen« ohne Knalleffekt.
Goethe hatte bisher nur sporadisch in Zeitschriften veröffentlicht. In der ›Sturm und Drang‹-Zeit hatte er kurzlebigen Zeitschriften ein paar Gedichte zur Verfügung gestellt, später war es dann Wielands »Teutscher Merkur«, dem er Texte aus seiner Werkstatt überließ. Die aktive Beteiligung an einer Zeitschrift wie den »Horen« war etwas Neues für ihn und war vor allem durch die Freundschaft mit Schiller veranlaßt, doch auch durch die Bereitschaft, sich auf die wachsende Bedeutung des Literaturbetriebs und der literarischen Öffentlichkeit einzustellen. Goethe wußte inzwischen, wie man sich gut verkauft. Der günstige Verlagskontrakt über den »Wilhelm Meister« zeigt es. Er begann literarische Zeitschriften zu studieren, die er vormals ignoriert hatte. Anders als Schiller sieht er sich nicht als Berufsschriftsteller, doch er verhält sich manchmal so. Er greift in den Literaturbetrieb ein und scheut sich nicht, sich dort mit den »Xenien« viele Feinde zu schaffen.
Goethe reagierte damit auf gesellschaftliche Veränderungen, die ein lesehungriges und schreibwütiges Zeitalter hervorbrachten, das »tintenklecksende Säkulum« hatte Schiller es genannt. Literatur wird zur öffentlichen Macht. Zwischen 1750 und 1800 verdoppelt sich die Zahl derer, die lesen können, gegen Ende des Jahrhunderts ist es rund ein Viertel der Bevölkerung. Das Leseverhalten ändert sich. Man liest nicht mehr ein Buch – zumeist die Bibel – mehrmals, sondern viele Bücher einmal. Auf den Markt drängen in großer Zahl Bücher, die nicht dafür geschaffen sind,
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