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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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daß man darin liest, sondern daß man sie verschlingt. Das weckt moralische Bedenken: Tun sich, unter dem Deckmantel des Bildungsmediums, nun Abgründe sittlichen Verfalls auf? Auch die jungen Leute, kaum der Schule entwachsen, nehmen jetzt teil an Erregungen und Phantasien, die sich die Erziehungsberechtigen nicht träumen lassen. Beim »Werther«-Roman hatte Goethe die Macht der Literatur und die Macht ihrer moralisierenden Widersacher schon zu spüren bekommen. Er hatte Wind gesät und Sturm geerntet. Allen Warnungen und Beaufsichtigungen zum Trotz verbreitet sich die Leselust wie eine Epidemie. Es fehlt nicht an Angeboten, man verlängert die Lesestunden in die Nacht.
    In Deutschland steigt das Literaturfieber noch mehr als anderswo. Hier fehlt die Metropole, der große gesellschaftliche Mittelpunkt, man lebt in Nischen, in der Kleinräumigkeit und in der Vereinzelung. Da es an der großen Gesellschaft fehlt, sucht man die imaginäre Geselligkeit im Buch. Was in England die Abenteurer der Seefahrernation oder in Frankreich die Zeugen großer historischer Ereignisse erzählen können, erlebt das deutsche Publikum bloß in der Ersatzform der Literatur. Goethe stellte bereits 1780 lapidar fest, daß
das ehrsame Publikum alles außerordentliche nur durch den Roman kennt.
Über die Vielschreiberei läßt er seinen Wilhelm Meister seufzen:
Wieviel die Menschen schreiben, davon hat man gar keinen Begriff.
Das müssen nicht gleich Romane sein, manchmal sind es auch nur Briefe und Tagebücher, aus denen sich ein Buch machen läßt. Man will sich gedruckt sehen, es ist der eindrucksvollste Existenzbeweis:
In der Sphäre, in der ich mich gegenwärtig befinde, bringt man beinahe soviel Zeit zu, seinen Verwandten und Freunden dasjenige mitzuteilen, womit man sich beschäftigt, als man Zeit sich zu beschäftigen selbst hatte.
    Das vermehrte Lesen und Schreiben läßt Leben und Literatur enger zusammenrücken. Die Empfindsamkeit der siebziger Jahre hatte schon damit begonnen, die Herztöne des Lebens in Literatur zu verwandeln. In der Gegenrichtung fahndete man in der Literatur nach dem Leben ihrer Autoren. In der ›Geniezeit‹ begann der Starkult. Die Autoren inszenieren sich, ihr Leben gehört nun zu ihrem Werk, es ist selbst ein Werk. Man staunte Goethe als leibhaftigen Werther an, und man war bei Schiller ein wenig enttäuscht, daß er so wenig Räuberisches an sich hatte. Man lebte die Gefühle nach, die man sich angelesen hatte. Man verliebte sich, war eifersüchtig, pflegte Freundschaften, erregte sich politisch – wie es im Buche stand. Literatur war zu einem Leitmedium geworden, auch existentiell: In ihrem Spiegel wertet sich das Leben auf, erhält Dichte, Dramatik und Atmosphäre. Die junge Generation der Romantiker versteht sich darauf besonders gut und klagt auch schon darüber, sie sei ganz aus Literatur gemacht, seufzt Ludwig Tieck, und auch Clemens Brentano ist davon überzeugt, daß die Romanlektüre unser Handeln bestimmt. Die Lebensmacht der Literatur und des Theaters ist auch das große Thema des »Wilhelm Meister«, der gerade deshalb bald als repräsentativer Roman der Epoche gelten wird.
    In dieser Zeit, da die Literatur zum Leitmedium wurde, wollten die Herausgeber der »Horen« für besseren literarischen Geschmack sorgen und das geistige Niveau beim Publikum heben, statt sich ihm anzupassen. Die Reihe der Herausgeber, Schiller, Wilhelm von Humboldt, Fichte, Woltmann und nun auch Goethe, weckten große Erwartungen. Zweitausend Abonnenten waren gewonnen worden, für damals eine eindrucksvolle Zahl. Der Verleger Cotta zahlte die höchsten Honorare, und deshalb hatten bekannte Autoren ihre Mitarbeit in Aussicht gestellt. Das Ganze versprach erfolgreich und einigermaßen prestigeträchtig zu werden.
    Goethe eröffnete die »Horen« mit einer Art Begrüßungsgedicht. Schiller hatte ihn darum gebeten, war aber mit dem Ergebnis nicht sehr zufrieden, weil es die hohen Ansprüche des ganzen Unternehmens ein wenig ironisierte, indem es darauf hinwies, daß zum tintenklecksenden Säkulum eben auch seine Kritiker gehören.
Jetzt da jeglicher liest und viele Leser das Buch nur /
Ungedultig durchblättern
〈...〉
/ Soll auch ich, du willst es mein Freund, dir über das Schreiben / Schreibend, die Menge vermehren und meine Meinung verkünden, / Daß auch andre wieder darüber meinen und immer / So ins Unendliche fort die schwankende Woge sich wälze.
In derselben Nummer der »Horen« begann der Abdruck von

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