Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
werden, was
Kunstwahrheit
sei und wie sie auf der
Naturwahrheit
gründet und sie übersteigt.
Was die
Naturwahrheit
betrifft, so gab sie Goethe Gelegenheit, seine anatomischen und optischen Arbeiten in den »Propyläen« zu veröffentlichen. Gedacht waren sie als Hilfe für die Maler und Plastiker, die sich ja zunächst an den natürlichen Objekten schulen sollten nach dem Grundsatz: Man muß die Wirklichkeit kennen, ehe man ihre Grenzen idealisierend überschreitet. Wenn die wissenschaftliche Welt Goethes einschlägige Arbeiten kaum zur Kenntnis nahm, dann sollten wenigstens Künstler und das kunstinteressierte Publikum ihren Nutzen davon haben.
Was die
Kunstwahrheit
betrifft, so setzt Goethe auf das Vorbild der Antike. Damals habe man begriffen, heißt es in der Schrift über Winckelmann, daß der Mensch als Naturwesen auf den Gipfel der Natur gestellt sei und daß es ihm obliege,
abermals einen Gipfel hervorzubringen
〈...〉
. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft, und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt
. Kunstwahrheit ist also nicht einfach nachgeahmte, sondern gesteigerte Natur.
Die antiken Kunstwerke, die Goethe in Italien kennen gelernt hatte und die diesem Ideal von gesteigerter Natur entsprachen, sollten bekannt gemacht werden durch Beschreibungen, Abbildungen, Erläuterungen etc. Die »Propyläen« verkünden ein Kunstideal und stimmen aber zugleich eine Elegie aufs Verlorene an. Obwohl Napoleon vor aller Augen die Kunstschätze Italiens raubt, habe man immer noch nicht begriffen,
was die Welt in diesem Augenblicke verliert, da so viele Teile von diesem großen und alten Ganzen abgerissen wurden
.
Die erste Nummer der »Propyläen« erschien im Oktober 1798, vier weitere im Januar, April, Juni und Dezember des folgenden Jahres. Die letzte Nummer kam wegen des schleppenden Absatzes erst ein Jahr später heraus. Goethe bot er dem Verleger Cotta als Kompensation für die finanziellen Verluste eine Option an auf die nächsten größeren Werke, und so druckte Cotta klaglos die letzte kaum mehr verkäufliche Nummer der Zeitschrift im Herbst 1800.
Aus den Gesprächen mit Schiller über Naturwahrheit und Kunstwahrheit entwickelte sich ein längerer Prosabeitrag für die »Propyläen«, ein
kleines Familiengemälde in Briefen
, wie Goethe den romanartigen Text »Der Sammler und die Seinigen« nennt, worin
die verschiedenen Richtungen, welche Künstler und Liebhaber nehmen können,
vom phantasielos Objektiven bis zum objektlos Phantastischen, zum Thema gemacht werden. Das gefiel dem Verleger: Endlich nicht nur lehrhafte Abhandlung, sondern ein kleiner unterhaltsamer Brief-Roman mit Witz und Anmut!
Ein Sammler erzählt in Briefen an die Herausgeber der »Propyläen«, so die Fiktion, wie der Vater, der Onkel und er selbst seine Bilder zusammengebracht haben. Ein Sammelsurium des unterschiedlichen Geschmacks. Dem einen kommt es auf naturgetreue Nachahmung an, dem anderen kann es nicht phantastisch genug sein, und dazwischen die gemischten Charaktere: die
Skizzisten
, die immer nur entwerfen, ohne etwas fertig zu machen; die
Punktierer
, die sich aufs Detail kaprizieren und das große Ganze aus den Augen verlieren, die
Schwebler
und
Nebler
, die
Schlängler
und
Undulisten
, die den Zierat, das Verspielte und Ahnungsvolle bevorzugen; dagegen die
Skelettisten
und
Rigoristen
, die das Wesentliche in der abgemagerten Abstraktion suchen. Schiller, der die Typenreihe mit entworfen hatte und sich zur Zeit besonders über die jungen Romantiker um Schlegel und Tieck ärgerte, sorgte dafür, daß auch diese Leute ihr Fett abbekamen: die
Imaginanten
, die
der Einbildungskraft etwas vorzuspielen suchen, ohne sich zu bekümmern in wie fern dem Anschauen genug geschieht
.
Hervorgegangen war die Brieferzählung aus dem gemeinsamen Schematisieren, damals eine Lieblingsbeschäftigung der beiden Freunde. Kaum war der Text abgeschlossen, war man schon wieder dabei, etwas zu schematisieren. Goethe und Schiller sammelten und ordneten die Gründe, weshalb der künstlerische »Dilettantismus« eine große Gefahr für die Kunst darstellt. Beide waren davon überzeugt, daß für die Kunst gilt: Das Gegenteil des Guten ist das Gutgemeinte. Vom Letzteren aber gab es für ihren Geschmack zu viel. Tatsächlich kam am Ende des Jahrhunderts in
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