Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Anteil. Nicht alles bekommt er mit, doch er ist sehr gerührt, als er es später erfährt. Der Mutter schreibt er nach überstandener Krise:
Wenigstens darf ich mir schmeicheln daß man mir einige Neigung gönnt und meiner Existenz einige Bedeutung zuschreibt.
Goethe kommt also über die Krise hinweg. Nach zwei Wochen beginnt er mit einer Übersetzung der Farbenlehre des Theophrast und er kann auch wieder Besuche empfangen und Briefe diktieren. Er nennt das seinen
Wiedereintritt ins Leben
. Zu denen, die neben Schiller ein erstes Lebenszeichen empfangen, gehört auch Schelling, der den Ausbruch der Krankheit miterlebt hatte:
leider war,
schreibt ihm Goethe am 1. Februar,
als wir Abschied nahmen, die Krankheit schon mit ziemlicher Gewalt eingetreten und ich verlor bald darauf das Bewußtsein meines Zustandes. Auch fühlte ich schon sehr während Ihres Hierseins, daß mir der völlige Gebrauch meiner Geisteskräfte abgehe
.
Goethe kommt erstaunlich schnell wieder zu Kräften, doch die Erinnerung an die ausgestandene Todesnähe verschwindet nicht so schnell. Es bleibt das Bewußtsein einer Zäsur. Er bringt seine Angelegenheiten in Ordnung. Er will Belastungen abstoßen und hält deshalb Ausschau nach einem Käufer seines Landgutes Oberroßla, das ihm außer Ärger und Sorgen nichts eingebracht hat. Er betreibt die Legitimierung Augusts, damit dieser als Erbe anerkannt wird. Für die große Anteilnahme während der Krankheit bedankt er sich mit der Gründung eines »Mittwochskränzchens«, einer ›cour d’amour‹, wo man im lockeren Gespräch, verbunden mit kleineren Darbietungen und Lesungen bei einfacher Bewirtung sich seines Lebens freut, solange man es noch hat. Er begibt sich für fast drei Monate zur Kur nach Bad Pyrmont und ins benachbarte Göttingen, wo er mit den Professoren über Naturwissenschaft spricht und wo ihn die Studenten, unter ihnen Clemens Brentano, mit einem ›Vivat‹ begrüßen. Die Kunde von Goethes ernster Erkrankung und glücklicher Genesung hatte sich selbstverständlich auch hier verbreitet. Überall begrüßt man Goethe wie einen von den Toten Auferstandenen.
Die poetische Arbeit ruht. Das war nicht leicht zu ertragen, vor allem da Schiller gegenwärtig eine außerordentlich produktive Phase durchlebte: Nach dem »Wallenstein« wurden in schneller Folge »Maria Stuart« und »Johanna von Orleans« fertiggestellt und erschienen mit großem Erfolg auf den Bühnen überall in Deutschland. In Leipzig kam es bei einem Besuch Schillers zu einem regelrechten Volksauflauf, im Menschengewühl hoben die Väter ihre Kinder in die Höhe, um ihnen dieses dichtende Wundertier zu zeigen. Goethe mißgönnte dem Freund nicht den Ruhm und die gegenwärtige Produktivität, doch es machte ihn mit sich selbst unzufrieden.
Der ins Leben zurückgekehrte Goethe verspürte nach einem solchen existentiellen Einschnitt das starke Bedürfnis, sich auch über den gesellschaftlich-politischen Einschnitt Klarheit zu verschaffen, also über die in den letzten Jahren durchlebte revolutionäre Epoche, die mit dem Aufstieg Napoleons zu einem gewissen Abschluß zu kommen schien. Nördlich der Mainlinie herrschte seit 1795 Friede, Preußen und einige andere Länder, unter ihnen auch das Herzogtum Weimar, verhielten sich neutral und genossen eine gewisse Ruhe im aufgewühlten Europa. Doch im Süden herrschte weiterhin Krieg, und der große Kriegsherr, der Europa in Atem hielt, war Napoleon.
Wir wollen erwarten,
schreibt Goethe am 9. März 1802 an Schiller,
ob uns Bonapartes Persönlichkeit noch ferner mit dieser herrlichen und herrschenden Erscheinung erfreuen wird.
Die
herrliche Erscheinung
, zu der Napoleon werden könnte, ist die des Überwinders der Revolutionsepoche. In diesem Brief resümiert Goethe die Revolution im grandiosen Bilde eines Naturereignisses:
Im Ganzen ist es der ungeheure Anblick von Bächen und Strömen, die sich, nach Naturnotwendigkeit, von vielen Höhen und aus vielen Tälern, gegen einander stürzen und endlich das Übersteigen eines großen Flusses und eine Überschwemmung veranlassen, in der zu Grunde geht wer sie vorgesehen hat so gut als der sie nicht ahndete. Man sieht in dieser ungeheuern Empirie nichts als Natur und nichts von dem was wir Philosophen so gern Freiheit nennen möchten.
Einzig Napoleon könnte derjenige sein, dem es gelingt, diese
ungeheure Empirie
in eine Gestalt zu bringen und ihr damit seinen eigenen Geist einzuhauchen.
Das schreibt Goethe in einem Augenblick, da er an
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