Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
Vom Netzwerk:
Zufall, daß Goethe gerade in den Jahren der Freundschaft mit Schiller einige Male »Selbstschilderungen« versuchte, in einer notierte er:
Immer tätiger nach innen und außen fortwirkender poetischer Bildungstrieb macht den Mittelpunkt und die Base seiner Existenz; hat man den gefaßt, so lösen sich alle übrigen anscheinenden Widersprüche.
Dieser
Bildungstrieb
sei auch dort wirksam geworden, wo es ihm an wirklicher Begabung gefehlt habe, zum Beispiel in der bildenden Kunst. Doch auch in anderen Bereichen hätten sich Mängel gezeigt. Für die Amtsgeschäfte etwa besitze er nicht genügend
Biegsamkeit
und für die Wissenschaften nicht genügend
Beharrlichkeit
.
    Diese Analyse stammt aus dem Jahr 1797. Er überlegte damals, was sich womöglich verbessern ließe. Die
Biegsamkeit
im praktischen Geschäft? Er wird zu schnell ungeduldig bei Widerständen und Hemmnissen, also müßte er lernen gelten zu lassen, was sich dem Gestaltungswillen nicht fügt. Doch das fällt ihm schwer, weil er die praktischen Amtsgeschäfte eigentlich nur ertragen kann, wenn
auf irgendeine Weise ein dauerndes Werk daraus entspringt
. Das ist der entscheidende Punkt. Er kann die Amtsgeschäfte nicht so hingehen lassen, sie müssen sich für ihn in einem fest umrissenen Ergebnis auswirken, sie müssen eine Gestalt annehmen. Das wünscht er sich eigentlich von jeder Lebenstätigkeit. Alles soll ihm zum Werk werden. Das aber kann im Gewimmel des Lebens, mit dem die Amtsgeschäfte zu tun haben, kaum gelingen. Und deshalb, schreibt er, müsse er so oft
die Augen wegkehren
, um nicht an der Gestaltlosigkeit des praktischen Lebens zu verzweifeln. In den ersten Weimarer Jahren hatte Goethe, wie bereits dargestellt, die Amtsgeschäfte sehr energisch und mit Konsequenz betrieben. Später dann hatte er, der inneren und äußeren Grenzen eingedenk, es lässiger angehen lassen und auf diese Weise freie Beweglichkeit zurückgewonnen.
    Bei den Wissenschaften ergab sich das ähnliche Problem, daß es sich hier um Materien handelt, die sich nur schwer zu einem Werke schließen lassen. Der Stoff der Wissenschaft ist so mannigfaltig, daß es einen zerreißen und zerstreuen kann. Wie soll man bloß dieser Mannigfaltigkeit, dieser unerschöpflichen Empirie, eine Gestalt abgewinnen? Hier findet Goethe schließlich eine überraschend einfache Antwort. Wenn es nicht die Phänomene sind, die sich zur Einheit fügen, muß es eben der erkennende Geist sein, der sich an ihnen zur Einheit bildet. Er schreibt:
Seitdem er hat einsehen lernen daß es bei den Wissenschaften mehr auf die Bildung des Geists der sie behandelt als auf die Gegenstände selbst ankommt
〈...〉
hat er dieser Geistestätigkeit nicht entsagt sondern sie nur mehr reguliert und lieber gewonnen
.
    Wenn Goethe den
poetischen Bildungstrieb
den Mittelpunkt seiner Existenz nennt, so gebraucht er den Ausdruck ›poetisch‹ nicht nur im literarischen, sondern auch im ursprünglichen Sinne von ›poiesis‹, verstanden als ›machen‹ und ›gestalten‹. Er kann nicht anders, schreibt er, als gestaltend auf das zu antworten, was ihm begegnet. Alles was auf ihn wirkt, weckt in ihm den Anreiz,
tätig dagegen zu wirken
.
    Es ist dieses Wirkenwollen, das ihn ständig über sich selbst hinaus oder besser: in die Welt treibt und damit vor grüblerischer Selbstversenkung bewahrt. Selbsterkenntnis gibt es für ihn nur auf dem Umweg über die Welt.
Hiebei bekenn’ ich
, heißt es in einer Bemerkung aus späteren Jahren,
daß mir von jeher die große und so bedeutend klingende Aufgabe:
erkenne dich selbst
, immer verdächtig vorkam, als eine List geheim verbündeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirren und von der Tätigkeit gegen die Außenwelt zu einer innern falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird.
    Das bedeutet erstens: man erkennt sich primär aus dem, was man getan hat, nicht aus den begleitenden Reflexionen, und schon gar nicht aus jenen seelischen Innenwelten, die niemals Gestalt annehmen wollen. Und zweitens: man braucht die Reaktionen und Erkenntnisse der Anderen. In ihrem Spiegel, im Spiegel der Fremderkenntnis also, entwickelt sich Selbsterkenntnis. Ich erkenne mich, weil ich erkannt werde. Allerdings macht Goethe hier eine bemerkenswerte Einschränkung. Nicht jeder Andere wird ihm zum Spiegel:
Widersacher kommen nicht in Betracht, denn mein Dasein ist

Weitere Kostenlose Bücher