Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
einem späten Brief (gerichtet zuerst an den König von Bayern und dann wortgleich an Zelter) erläutert Goethe den Titel seines Werkes. Es war sein
ernstestes Bestreben
, schreibt er,
das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrucken.
Dieses
Grundwahre
sind nicht in erster Linie die äußeren Fakten. Sie möglichst getreu wiederzugeben, versteht sich von selbst. Goethe nimmt, um sie zu ermitteln, Hilfe in Anspruch, studiert Chroniken, Geschichtswerke, zieht Erkundigungen ein, nutzt Briefe und Tagebücher. Das
Grundwahre
ist die innere Logik, der innere Zusammenhang des eigenen Lebens, so wie er ihm vom Augenblick des Schreibens her erscheint. Er nennt das auch die
Resultate
. Es ist die Persönlichkeit, als die er sich jetzt begreift in der Folge ihrer von Einwirkungen und Gegenwirkungen bestimmten Entwicklung. Das
Grundwahre
ist die Persönlichkeit und was sie zu einer solchen hat werden lassen. Da man sich aber dieser Entwicklung nicht von außen nähert, wie ein Historiker, sondern von innen, aus der Perspektive der
Rückerinnerung
, kommt die Einbildungskraft ins Spiel. Sie ist nichts anderes als das
dichterische Vermögen
. Sie erweckt das Vergangene zum Leben, und dadurch kann sich zeigen, was daran Wahrheit ist.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, unterscheidet Goethe in einem Gespräch mit Kanzler Müller das Dichten der Erinnerung vom bloßen
Erdichten
. Auf Müllers Bitte, doch einmal auch das Tiefurter Leben zur Zeit Anna Amalias zu schildern, antwortet er:
Es wäre nicht allzuschwer,
〈...〉
man dürfte nur die Zustände ganz treu so schildern, wie sie sich dem poetischen Auge damals darstellten, Dichtung und Wahrheit, ohne daß
Erdichtung
dabei wäre
.
Erdichtung
wäre eine freie Erfindung,
Dichtung
in diesem Zusammenhang ist die in der Erinnerung gespiegelte Realität. Was vorbei ist, aber in einem fortlebt, wird vom
poetischen Auge
gesehen. Manchmal kommt die Wahrheit eines Erlebnisses erst in der Erinnerung zum Vorschein. Manche Eindrücke und Erlebnisse benötigen Zeit, um sich zu entwickeln und erst in dieser Entwicklungszeit kommen sie zu ihrer Wahrheit. Was eine Person im Erleben und Handeln ausmacht, und was davon das Dichten der Erinnerung zu vergegenwärtigen vermag, ist also das
Grundwahre.
Wie das
Grundwahre
des Vergangenen verknüpft ist mit der Gegenwart und wie es gelegentlich erst gegenwärtig in seiner Tragweite deutlich wird, zeigt sich im Problem des
taedium vitae
, des Lebensekels, das Goethe im dritten und vorläufig letzten Buch von »Dichtung und Wahrheit« im Zusammenhang der Werther-Thematik darstellt. Erst als er die diesbezüglichen Passagen diktiert, 1812, kommt ihm voll zu Bewußtsein, daß dieser Lebensekel einerseits ein dauerhaftes wenn auch meist unterschwelliges Motiv seines Lebensgefühls ist, andererseits damals aber auch ein Epochenphänomen war, daß er also sowohl von innen wie von außen kommt.
Goethe leitet die Darstellung der düsteren Periode seines Lebens mit einem Lob auf die Poesie als wahrhaft lebenserleichternde Kraft ein. Im achten Kapitel wurde die wunderbare Passage bereits zitiert, in der es über die Poesie heißt:
Wie ein Luftballon hebt sie uns mit dem Ballast der uns anhängt, in höhere Regionen
. Die Poesie befreit zeitweilig von den
irdischen Lasten,
sie erlaubt die
Vogelperspektive
auf die
Irrgänge der Erde
. Umgekehrt entsteht eine Lebensnot, wenn ein freier Blick nicht mehr möglich ist. Die Lasten des Lebens gibt es zwar immer, sie werden aber erst dann erdrückend, wenn ihnen keine innere Beweglichkeit das Gleichgewicht halten kann. Doch solche Einengungen und Belastungen, denen die Poesie etwas entgegenzusetzen hat, bedeuten noch nicht jene Verfinsterung des Gemüts, die Goethe Lebensekel nennt,
taedium vitae
. Der Lebensekel entsteht nicht bei zu großen Lebenslasten und labyrinthischen Verhältnissen. Nicht das Schwere und Mannigfaltige ist das Problem, sondern das Leere und Eintönige. Also nicht das Zuviel, sondern das Nichts droht. Hier gibt es keine wild gestikulierende Verzweiflung sondern nur lähmende Langeweile. Das ist der schon im Leben vorweggenommene Tod, der die Selbsttötung dann nur noch als Formsache erscheinen läßt. Hier erst ist man in der Talsohle des Lebensekels angekommen. Goethe schildert in »Dichtung und Wahrheit«, wie ihm solches widerfuhr, wie er sich, um solcher Leere zu entkommen, zu großen, pathetischen Gesten
Weitere Kostenlose Bücher