Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
ihnen verhaßt
〈...〉
. Ich weise sie daher ab und ignoriere sie, denn sie können mich nicht fördern, und das ist’s, worauf im Leben alles ankommt
. Dieser Gesichtspunkt ist für Goethe von höchster Bedeutsamkeit.
Erkenntnis und Selbsterkenntnis verdienen nur diesen Namen, wenn sie lebensdienlich, förderlich sind. Erkenntnis ist eine Funktion der Lebenserhaltung und der Lebenssteigerung. Untergräbt sie die Lebenskräfte, verdient sie nicht, Erkenntnis genannt zu werden. Sie ist dann Ausdruck der Verfeindung, Selbst- und Fremdzerstörung im täuschenden Gewande der Erkenntnis. Lebenskunst wäre es, diese feindlichen Kräfte abzuwehren oder fernzuhalten
.
Der Wille zum Wissen ist bei Goethe integriert in die Kunst des Lebens. Deshalb konnte er auch für Nietzsche zum Vorbild werden.
Wenn jemand mit so wenig Neigung zur grüblerischen Introspektion wie Goethe eine Autobiographie zu schreiben unternimmt, wird er seine Aufmerksamkeit auf das richten, was an ihm wirklich geworden ist. Keine bloß schattenhaften Innenwelten. Was aber ist nun wirklich wirklich?
Aus der Zeit der Entstehung von »Dichtung und Wahrheit« stammt eine Reflexion über die Bedeutung des Individuellen.
Jeder ist selbst nur ein Individuum und kann sich auch eigentlich nur fürs Individuelle interessieren.
Nun aber bewegen wir uns unaufhörlich in der überindividuellen Realität von Natur, Gesellschaft und Kultur, worin der Einzelne sich auch als ein Nichts vorkommen kann. Und doch bleibt das Individuelle mit dem stärksten Seinsgefühl verbunden, und darum verlangt man auch nach individuellen Spuren inmitten jener überindividuellen gesellschaftlich-geschichtlichen Welt.
Wir lieben nur das Individuelle; daher die große Freude an Porträten, Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedner selbst unbedeutender Menschen
. Dazu gehören auch die Biographien.
Dem Geschichtsschreiber
, heißt es in einer vorbereitenden Notiz,
ist nicht zu verargen, daß er sich nach Resultaten umsieht; aber darüber geht
〈...〉
der einzelne Mensch verloren
. Deshalb lese man Biographien,
denn man lebt mit Lebendigen.
Doch bei aller Neugier gegenüber dem Individuellen als dem wirklich Lebendigen ist das Interesse an Biographien nicht nur friedlich und freundlich. Biographien werden auch gelesen, um
das Heruntersetzende zu erfahren
. Biographien aus dem Geist des Ressentiments waren Goethe ein Greuel. Er nahm sich vor, solche Interessen nicht zu bedienen. Deshalb auch unterließ er es, die eigene Autobiographie bis an die unmittelbare Gegenwart heranzuführen. Im ersten Schema von 1809 war das noch vorgesehen. Er nahm davon Abstand aus Rücksicht auf lebende Personen, wie den Herzog oder die Frau von Stein. Es sollte keine Indiskretionen geben. Andere Bedenken erörterte er am 18. Mai 1810 mit Riemer auf der Reise nach Karlsbad. Ihrer Bedeutung wegen hält er sie im Tagebuch fest.
Jeder der eine Confession schreibt, ist in einem gefährlichen Falle, lamentabel zu werden; weil man nur das morbose, das sündige bekennt, und niemals seine Tugenden beichten soll.
Es muß ein Weg gefunden werden zwischen der Skylla der Selbstanklage und der Charybdis des Selbstlobs. Es gibt zwei Arten von Unaufrichtigkeit, man erniedrigt sich oder man wird überheblich. Beides gilt es zu vermeiden. Rousseau hatte beide Unaufrichtigkeiten zugleich begangen, als er sich überhob, indem er sich erniedrigte. Keiner sollte ihn an Aufrichtigkeit überbieten, deshalb klagte er sich selbst so heftig an und verbarg dann doch, was ihm besonders peinlich war, wie etwa die Tatsache, daß er seine Kinder ins Waisenhaus gab. Rousseaus »Bekenntnisse« waren für Goethe eine Mahnung, es nicht so zu machen wie jenes Genie der Unaufrichtigkeit. Überhaupt war ihm Rousseaus Emphase der Wahrheit verdächtig. Goethe stellt die Wahrheit über Menschen unter das Gebot der
Schicklichkeit
, wie sein Lieblingswort dafür lautet. Sie hält zur Rücksicht an, denn man kann Menschen auch mit sogenannten Wahrheiten zu nahe treten, sie verletzen, kränken, heruntersetzen. Und dann ist da noch die Vorsicht, da es stets nur perspektivische Wahrheiten gibt. Aus der Rücksicht der
Schicklichkeit
und Vorsicht infolge Perspektivität ergibt sich bei Goethe eine Haltung, die er im Tagebuch nennt:
Ironische Ansicht des Lebens im höhern Sinne.
Goethe gab der Autobiographie den Titel »Dichtung und Wahrheit«. Wieviel Wahrheit ist in einer Autobiographie möglich und wieviel Dichtung ist nötig? In
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