Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
aufraffte, wie er einen Dolch bereitlegte, wie er über die prachtvollen Selbstmorde großer Helden der Geschichte sinnierte, etwa Kaiser Otho, der sich ins Schwert stürzte, oder Seneca, der sich in der Badewanne die Pulsadern öffnete. Doch er weiß: Das sind Personen, die ein tätiges, bedeutendes Leben geführt hatten und dabei in irgendeine Widrigkeit geraten und darüber verzweifelt waren. Sie verzweifelten an bestimmten Taten. Der Lebensekel jedoch verzweifelt am
Mangel von Taten
. Jene haben zu viel Leben, dieser zu wenig. Goethe erzählt, wie er aus diesem Tief herausgefunden habe – durch Tätigkeit. Er
beschloß
zu leben, doch um dies mit
Heiterkeit
tun zu können, mußte er eine
dichterische Aufgabe zur Ausführung bringen
. Er schildert diese Wendung so, als hätte auch jede andere Tätigkeit diese Wirkung gehabt, die
hypochondrischen Fratzen
zu verscheuchen.
Als Goethe im November 1812 diese Gedanken über den Lebensekel, als eigene Erfahrung und als Epochenphänomen, entwickelte, geschah es, daß er von seinem verzweifelten und mühsam um Fassung ringenden Freund Zelter die Nachricht vom Selbstmord des Stiefsohns erhielt. So greifen Vergangenheit und Gegenwart, erzählte Zeit und Erzählzeit, ineinander über.
Eine ähnlich bedeutungsvolle Verknüpfung ergibt sich beim Thema der Religion. Es taucht an vielen Stellen der Autobiographie auf, und zwar nicht nur dort, wo sie im erzählten Leben eine Rolle gespielt hat, sondern auch dann, wenn Goethe sich gegenwärtig zum Nachdenken über bestimmte religiöse Fragen herausgefordert fühlte. Da führte er beispielsweise 1811 mit dem neu gewonnenen jungen Freund Sulpiz Boisserée, dem großen Sammler altdeutscher Kunst und bekennenden Katholiken, ausführliche Gespräche über die geistige Welt der katholischen Kirche und wurde dabei zur Lektüre von Chateaubriands »Der Genius des Christentums« angeregt. Das brachte ihn zu einer freundlicheren Sichtweise der sakramentalen Ordnung des katholischen Alltagslebens. Er plaziert die Kritik an der protestantischen Kargheit –
der Protestant hat zu wenig Sakramente
– und die Apologie der katholischen Lebensordnung in das Kapitel über die Leipziger Zeit, wo es gar nicht so recht paßt. Jedenfalls kommt in diesen Überlegungen das zur Sprache, was er gegenwärtig zum Thema der Religion und der Religionsausübung zu sagen hat: Wenn schon Religion, dann eine, die bildkräftig, anschaulich, feierlich ist und eine lebenspraktisch wirksame Sakramentalität besitzt.
In die Zeit der Entstehung von »Dichtung und Wahrheit« fällt auch die Auseinandersetzung mit dem alten Freund Jacobi, wodurch Goethe sich zusätzlich herausgefordert fühlte, sein Verhältnis zur Religion zu klären. Auch diese Klärung hat sich in der Autobiographie niedergeschlagen.
Jacobi hatte Goethe seine Schrift »Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung« zugeschickt, worin er den Gedanken entwickelte, Gott sei keinesfalls aus der Natur zu begreifen. »Der Mensch offenbaret Gott, indem er mit dem Geiste sich über die Natur erhebt«, schreibt Jacobi. Das war eine vollkommene Gegenposition zu Goethe, der sogar den Eindruck hatte, diese Schrift des Freundes enthielte eine direkte Spitze gegen ihn. Sehr verärgert schrieb er Knebel, dem anderen Freund aus frühester Zeit:
Wem es nicht zu Kopfe will, daß Geist und Materie, Seele und Körper
〈...〉
die notwendigen Doppelingredienzien des Universums waren, sind und sein werden,
〈...〉
wer zu dieser Vorstellung sich nicht erheben kann, der hätte das Denken längst aufgeben
〈...〉
sollen
. Jacobi habe ihn, schreibt er weiter, über Jahre mit seinen Glaubensdingen gequält und deshalb geschehe es ihm recht,
wenn sein graues Haupt mit Jammer in die Grube fährt.
Jacobi war das letzte Mal 1805, kurz nach Schillers Tod, bei Goethe zu Besuch gewesen. Seitdem hatten sich die beiden nicht mehr gesehen. Als der erste Ärger über Jacobis frommes Werk verflogen war, gelang Goethe in einem freundlichen Brief an ihn eine prägnante Beschreibung seines Verhältnisses zur Religion.
Ich für mich kann
, schrieb er Anfang 1813 an Jacobi,
bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andre. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt.
Daraus wurde dann in den »Maximen« des
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