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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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veröffentlichten vierten Teil der Erinnerungen ihren Platz fanden, wurden im April 1813 geschrieben, nach Napoleons katastrophaler Niederlage in Rußland. Während also in der erzählten Zeit der Autobiographie das Phänomen des Dämonischen mit der Gestalt Egmonts verknüpft wird, ist es in der Erzählzeit für Goethe vor allem mit Napoleon verbunden. Mit dem Begriff des Dämonischen suchte Goethe seiner aus Schrecken und Bewunderung gemischten Faszination durch die Gestalt Napoleons auf die Spur zu kommen.
    Goethe tastet sich behutsam an das Phänomen heran. Es erscheine, schreibt er, an der Grenze zum
Ungeheuren, Unfaßlichen
. Es sei etwas Religiöses in nicht religiöser Gestalt. Mit seiner Anziehungskraft, durch die es auf die Massen wirkt, reicht es in irrationale Tiefen hinab, ist stärker als alle Vernunft, und kann zum Guten wie zum Bösen ausschlagen. Es tritt in die Geschichte ein, plötzlich und wie aus dem Nichts, es gleicht dem
Zufall
, und doch entdeckt man eine Notwendigkeit, es ähnelt der
Vorsehung
, denn es deutet auf
Zusammenhang
.
    Das sind erste Annäherungen an das Phänomen, und der Autobiograph gibt zu erkennen, daß die Beobachtungen auf Egmont, an den sie geknüpft werden, wohl doch nicht so gut passen, und daß eigentlich von jemand ganz anderem die Rede sein sollte.
Und so will ich denn
, bemerkt der Autor,
mir selbst vorgreifen und, weil ich nicht weiß, ob ich sobald wieder zur Rede gelange, etwas aussprechen, wovon ich mich erst viel später überzeugte
, also lange nach seiner Egmont-Zeit. Was dann folgt, ist eine dichte Beschreibung des Phänomens Napoleon, ohne daß der Name genannt wird.
Am furchtbarsten aber erscheint dieses Dämonische, wenn es in irgend einem Menschen überwiegend hervortritt.
〈...〉
Es sind nicht immer die vorzüglichsten Menschen, weder an Geist noch an Talenten, selten durch Herzensgüte sich empfehlend; aber eine ungeheure Kraft geht von ihnen aus, und sie üben eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe
〈...〉
Alle vereinten sittlichen Kräfte vermögen nichts gegen sie; vergebens, daß der hellere Teil der Menschen sie als Betrogene oder als Betrüger verdächtig machen will, die Masse wird von ihnen angezogen. Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare aber ungeheure Spruch entstanden sein, nemo contra deum nisi deus ipse.
    Daß ein dämonischer Mensch bisweilen nur
durch das Universum selbst
überwunden werden könne, ist ein deutlicher Hinweis auf Napoleon, der in Rußland nicht durch die Gegner, sondern durch den Winter und den riesigen Raum bezwungen worden war. Das Dämonische, das wird Goethe später Eckermann gegenüber noch einmal ausdrücklich betonen, ist nicht nur negativ, als etwas Teuflisches anzusehen. Mephisto zum Beispiel ist durchaus keine dämonische Figur. Der dämonische Mensch ist von ungeheurer Energie, auch im Positiven. Deshalb rechnet Goethe sogar den Herzog unter die dämonischen Naturen, er sei
voll unbegrenzter Tatkraft und Unruhe, so daß sein eigenes Reich ihm zu klein war, und das größte ihm zu klein gewesen wäre.
In dem Gespräch mit Eckermann, woraus hier zitiert wird, äußert sich Goethe auch zu der Frage, ob auch in ihm etwas Dämonisches wirke.
In meiner Natur liegt es nicht, aber ich bin ihm unterworfen
. Das sagt ein sehr alter Mann, der in diesem Augenblick den berückenden Zauber des jungen Manns vielleicht nicht mehr ganz im Blick hat. Im Inneren des Orkans ist es still, auch diesmal wieder.
    Ende 1812 hatte Goethe sich entschlossen, die Darstellung mit der Übersiedlung nach Weimar enden zu lassen, und es war ihm klar, daß er nur noch jene Zeitabschnitte ausführlich schildern würde, die besonders ereignisreich waren wie die Feldzüge gegen Frankreich, bei denen er den Herzog begleitet hatte, oder in denen es ihm wieder gelungen war, ganz
sich selbst anzugehören
wie bei der Reise nach Italien. Nach Beendigung des dritten Teils der Autobiographie und noch vor Vollendung des vierten Teils beginnt er sogleich mit der Arbeit an der »Italienische Reise«, die dann 1816 und 1817 erschien und die Reihe der Veröffentlichungen der ersten drei Teile von »Dichtung und Wahrheit« – 1811, 1812 und 1814 – kontinuierlich fortsetzte. Trotz der politisch unruhigen Zeiten – Cotta wartete mit der Auslieferung des dritten Bandes bis zur

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