Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
vielleicht mache er seine »Zauberflöte«, zweiter Teil, die liegen geblieben war, wieder
flott
. Er nahm sich seine Aufzeichnungen der Italienischen Reise vor, redigiert die damaligen Tagebücher und Briefe für die Buchausgabe. Auch dieses Eintauchen in eine schöne Vergangenheit belebte ihn. Aus dieser Arbeit wird er vorerst herausgerissen durch den »Epimenides«, doch geht es auch hier um das Erwachen der Lebensgeister.
Und wir sind alle neugeboren, / Das große Sehnen ist gestillt
, ruft Epimenides aus.
Wirklich
neugeboren
wird er sich allerdings erst ein paar Wochen später fühlen. Mitte Mai 1814 erhielt er von Cotta den »Divan« des persischen Dichters Hafis aus dem 14. Jahrhundert in der Neuübersetzung Joseph von Hammers. Hafis war ihm kein Unbekannter, Übersetzungen einzelner Gedichte hatte er schon zuvor kennen gelernt. Herder hatte einiges veröffentlicht. Für sein geplantes »Mahomet«-Drama hatte Goethe sich schon 1773 mit arabischer und persischer Kultur vertraut gemacht. Diese Welt gehörte für ihn zusammen mit dem Alten Testament zu einem Kulturkreis. Er las ja auch das Alte Testament als Dichtung, ebenso wie den Koran, mit dem er sich schon in den frühen siebziger Jahren beschäftigt hatte. Von dem salomonischen »Hohen Lied« zu den Liebesliedern des Hafis war für ihn kein weiter Weg, ebenso wenig wie von den Erzählungen von Abraham und Jacob zu den Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Überall dort weht
Patriarchenluft
. Als er bei der Arbeit an »Dichtung und Wahrheit« seine Erinnerungen daran auffrischte, schrieb er an Rochlitz über die
asiatischen Weltanfänge
, wie er das nennt:
Es schlingt sich die daher für mich gewonnene Kultur durch mein ganzes Leben, und wird noch manchmal in unerwarteten Erscheinungen hervortreten.
So geschah es, als zweieinhalb Jahre später in einer schöpferischen Hochstimmung, ausgelöst durch die Hafis-Lektüre, bis zum Sommer 1814 bereits über dreißig Gedichte entstanden, die zunächst unter dem Titel »Gedichte an Hafis« gesammelt wurden. Ende des Jahres, als immer mehr Stücke dazukamen, wollte Goethe die Sammlung »Deutscher Divan« nennen. Als er im Frühsommer des darauffolgenden Jahres ein Register erstellte, waren es bereits über hundert Gedichte, die er Ende 1815 in einzelne »Bücher« einteilte. Das waren Fächer für die neu hinzukommenden Gedichte, deren Zahl bis zur Veröffentlichung im Sommer 1819 noch weiter anwuchs. Am Ende wurde es die umfangreichste, zyklisch geschlossene Gedichtsammlung Goethes. Einige Gedichte veröffentlichte er vorab in Cottas »Taschenbuch für Damen auf das Jahr 1817«, um die Wirkung zu testen. Sie war enttäuschend, und deshalb verfaßte er die Noten und Abhandlungen zu »Besserem Verständnis« des West-östlichen Divans – eine Schrift, die nicht nur Erläuterungen des persisch-arabischen Kulturkreises enthielt, sondern in der er einige grundsätzliche Gedanken über die Religion und ihr Verhältnis zur Poesie entwickelt.
Auf die Hafis-Lektüre im Frühsommer 1814 zurückblickend, schreibt Goethe in den »Tag- und Jahres-Heften«, er habe sich gegenüber diesen starken Eindrücken
produktiv verhalten
müssen, weil er sonst
vor der mächtigen Erscheinung nicht hätte bestehen können
. Er überließ sich und seinen Schaffensdrang der frisch geweckten lyrischen Stimmung, weil er wünschte, sich
aus der wirklichen Welt, die sich selbst offenbar und im Stillen bedrohte, in eine ideelle zu flüchten.
An das Motiv von der bedrohten Welt knüpft das Eingangsgedicht des Zyklus an:
Nord und West und Süd zersplittern, / Throne bersten, Reiche zittern, / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten, / Unter Lieben, Trinken, Singen, / Soll dich Chisers Quell verjüngen
.
Chiser wird in der arabischen Überlieferung als Jüngling vorgestellt, der das Wasser des Lebens gefunden hat und an der Quelle sitzt im grünen Gewand und mit grünem Flaum um die Lippen, also ganz in den Farben des frühlingshaften Wachstums und der Fruchtbarkeit.
In den Wochen und Monaten der Entstehung des »West-östlichen Divan« im Sommer 1814 und auch im darauf folgenden Sommer 1815 geschah mit Goethe etwas, das er später im Gespräch mit Eckermann eine
wiederholte Pubertät
nannte. Das schöpferische Hochgefühl jener Monate schildert er dort so:
Als mich
〈...〉
die Gedichte des
Divan
in ihrer Gewalt hatten, war ich produktiv genug, um oft in einem Tage zwei bis drei zu machen; und auf freiem Felde, im Wagen oder im
Weitere Kostenlose Bücher