Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Freiheit entsteht durch die Gesellschaft, erklärt der Hegelsche Zeitgeist. Goethe indes glaubt, seine Freiheit gegen die Gesellschaft verteidigen zu müssen. Die besten Gedanken, schreibt er einmal an Meyer, würden
durch den Augenblick, das Jahrhundert, durch Lokalitäten und sonstige Besonderheiten getrübt, gestört und abgelenkt.
Für ihn ist es also die Gesellschaft, die einen um das Beste betrügt.
Doch Goethe bleibt nicht beim Lamento. Er ist sich der schöpferischen Kraft seiner Eigenheit zu sehr bewußt. Unter die »Zahmen Xenien« nimmt er die Verse auf:
Fahrt nur fort nach eurer Weise / Die Welt zu überspinnen! / Ich in meinem lebendigen Kreise / Weiß das Leben zu gewinnen.
Wenn Goethe glaubt, die Wahrheit seines Lebens der Gesellschaft abtrotzen zu müssen, dann erweist sich für ihn diese hemmende, verzerrende, verflachende Gesellschaft eben als ein Teil jener
Bedrängnis
, in die gemäß seiner Plotin-Kritik die
belebenden
Prinzipien geraten. Dem widerspricht nicht seine Bereitschaft und Lust, tätig zu sein, Anregungen aufzunehmen, einzugreifen in gesellschaftliche Verhältnisse. Auch hat er von Berufs wegen zahlreiche gesellschaftliche und politische Verpflichtungen übernommen. So sehr er das Kontemplative liebte und übte, so war er doch eine durchaus aktive Natur.
Das Bedürfnis meiner Natur
, schrieb er nach einigen Jahren in Weimar an Knebel,
zwingt mich zu einer vermannigfaltigten Tätigkeit, und ich würde in dem geringsten Dorfe und auf einer wüsten Insel eben so betriebsam sein müssen um nur zu leben.
Gesellschaft ist für Goethe also durchaus ein Feld der Bewährung, doch auch jener Bereich, gegen den er sich behaupten und bewahren muß. Gerade weil er so aufnahmebereit und empfindlich war, so weltoffen, achtete er darauf, sich nicht bis zur Besinnungslosigkeit verstricken zu lassen. Den strengen
Egoismus
der Selbstbehauptung gegenüber dem Übermaß von aufdringlicher Welt nennt Goethe auch das
unentbehrliche, scharfe, selbstische Prinzip
. Der Einzelne muß, wenn er nicht im gesellschaftlichen Getriebe untergehen will, jenen inneren Zusammenhalt haben, den er einmal in Bezug auf die Steine die
Anziehungskraft gegen sich selbst
nannte. Das selbstische Prinzip gibt einer Person etwas Abweisendes, Kompaktes und Undurchdringliches. Die Analogie zur mineralischen Welt drängt sich für Goethe so sehr auf, daß er in seinem späten Roman, an dem er nach dem »West-östlichen Divan« wieder intensiv und kontinuierlich zu arbeiten beginnt, den Protagonisten, der die abweisenden und harten Aspekte des selbstischen Prinzips verkörpert, nämlich Montan (ehemals Jarno), als Mann des Berges und der Steine auftreten läßt.
»Wilhelm Meisters Wanderjahre« ist der große Roman aus Goethes letztem Lebensjahrzehnt, worin das in der Plotin-Kritik angedeutete Problem der
Bedrängnis
der
belebenden Prinzipien
durch die gesellschaftliche Wirklichkeit und das mögliche Durchhalten und Widerstehen das große Thema ist. Durchgespielt werden in diesem Roman Modelle, wie das geistige Leben sich behaupten kann und wie es womöglich erstarrt. Es werden auch Utopien dargestellt, von denen nicht ganz klar ist, ob sie als Verwirklichung oder als Verrat des Geistes zu gelten haben, ob sie also einen Traum oder einen Albtraum bedeuten. Zwischen die gedankenschweren Sequenzen werden zahlreiche Erzählungen eingestreut, die nur locker mit der Haupthandlung verbunden sind und insgesamt einen so breiten Raum einnehmen, daß dadurch die Haupthandlung fast zum Rahmen wird und der ganze Roman seine Geschlossenheit verliert. Die eingestreuten Erzählungen bilden einen Novellenkranz mit undeutlichem inneren Zusammenhang, dazwischen Schilderungen mehrerer Sozialutopien, Betrachtungen, die sich zu Abhandlungen auswachsen, Briefe; zudem eine Hauptfigur, die sich auf die Rolle des Zaungastes beschränkt sieht, eine Liebesgeschichte, die zwischen Novelle und Rahmenhandlung spielt, kurz: ein veritables Durcheinander. Auch hier sind also die
ordnenden Prinzipien
bedrängt, wenn nicht gar verschwunden. Das vermerkt sogar eine
Zwischenrede
, bei der undeutlich bleibt, ob der reale Autor spricht oder ein fiktiver Erzähler. Zunächst wird das Durcheinander benannt und dann heißt es über die Arbeit am Roman:
Wenn wir also nicht, wie schon oft seit vielen Jahren, in diesem Geschäft
abermals stocken sollen, so bleibt uns nichts übrig, als zu überliefern was wir besitzen, mitzuteilen was sich erhalten hat
. Der Leser dieses
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