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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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hat sie keine Chance.
Sie finden, sagte der Kustode, in dem ganzen Schloß kein Bild, das, auch nur von ferne, auf Religion, Überlieferung, Mythologie, Legende oder Fabel hindeutete; unser Herr will, daß die Einbildungskraft nur gefördert werde, um sich das Wahre zu vergegenwärtigen. Wir fabeln so genug, pflegt er zu sagen, als daß wir diese gefährliche Eigenschaft unsers Geistes durch äußere reizende Mittel noch steigern sollten.
    Der Oheim betreibt hier ein gesellschaftliches Reformprojekt. Es gibt keine Verschwendung, alles wird investiert, um die Erträge zu steigern und die Menschen in Lohn und Arbeit zu setzen. Der Oheim versteht sich als Philanthrop. Die Lustgärten und Parks hat man beseitigt und statt dessen Fruchtbäume gepflanzt und Gemüsebeete angelegt. Der Oheim verzichtet nicht auf sein Eigentum, er will es aber gemeinschaftsdienlich nutzen,
denn nur insofern werden die Vermögenden geschätzt,
erklärt er,
als andere durch sie genießen.
Es ist auf solche Genüsse abgesehen, welche die Arbeitsfähigkeit erhalten und womöglich steigern. Der Sonntag wird in großer Stille hingebracht:
jeder bleibt einsam und widmet sich einer vorgeschriebenen Betrachtung. Der Mensch ist ein beschränktes Wesen, unsere Beschränkung zu überdenken, ist der Sonntag gewidmet
. Werktags läßt man sich von seinen Pflichten beschränken, sonntags denkt man dann über diese Beschränkung nach. So gerät man nicht in Versuchung, wenigstens an diesem Tag über die Stränge zu schlagen. Die kluge Hersilie, in die sich Felix verlieben wird, merkt, daß hier etwas nicht stimmt.
Es ist ein sauberes Leben
, ruft sie aus,
wenn ich mich alle acht Tage resigniere.
    Das Landgut des Oheims ist die erste der realisierten Sozialutopien, die Wilhelm besucht. Sie ist noch vergleichsweise liberal. Die folgenden werden restriktiver sein. Gemeinsam ist ihnen allen der Primat der Nützlichkeit und Brauchbarkeit. Der Einzelne ist darin jeweils nur ein Organ in einem Organismus, besser: ein Rädchen und Schräubchen in einem Mechanismus. Du bist nichts, dein Volk ist alles. Was die Gesellschaftsentwürfe des Romans gemeinsam haben, ist ihr ausgenüchtertes und zutiefst prosaisches Prinzip:
die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken.
    Phantastisches und Geheimnisvolles, Sehnsucht, Wehmut, Übermut, Verrücktheiten jeder Art werden in die Novellen verlegt, die Haupt- oder Rahmenhandlung wird davon gesäubert. Dort zieht der schwächliche Wilhelm Meister umher als Zaungast der Sozialutopien, und in dieser Wüste der Ordentlichkeit geistern die Entsagenden herum. Einmal erklingt, abgerissen und wie aus der Ferne, Mignons Lied:
Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh’n, / Im dunklen Laub – – – – –
Am Lago Maggiore hat sich ein Kreis von Entsagenden versammelt.
Die Frauen warfen sich einander in die Arme, die Männer umhalsten sich und Luna ward Zeuge, der edelsten, keuschesten Tränen.
Doch bald sitzt man wieder auf dem Trockenen.
Einige Besinnung kehrte langsam erst zurück, man zog sich auseinander, schweigend, unter seltsamen Gefühlen und Wünschen, denen doch die Hoffnung schon abgeschnitten war
.
    Wir haben es hier mit Tüchtigen und Tugendbolden zu tun, doch es hilft alles nichts, trotz der romantischen Landschaft wird der Leser Zeuge des Untergangs der Poesie.
Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt
. Novalis, der bereits »Wilhelm Meisters Lehrjahren« Verrat an der Poesie vorgeworfen hatte, würde über diesen vollkommenen Triumph der Prosa über die Poesie entsetzt gewesen sein.
    Man weiß nur nicht genau, ob Goethe dieses Verschwinden der Sehnsucht im
Tun und Wirken
nun für gut befunden hat, oder bloß für unausweichlich in der heraufkommenden Epoche des Maschinenwesens und der neuen Sachlichkeit. Der Roman selbst gibt darüber keinen hinreichenden Aufschluß, ob er die Entzauberung kritisiert oder ein Symptom davon ist. Zwischen Traum und Albtraum changieren auch die Ideen der Auswanderer und ihr amerikanischer Siedlungsplan. Es würde, heißt es, gegen Zeitvergeudung eingeschritten, es würden
Telegraphen
errichtet, die jedermann Tag und Nacht daran erinnern, was die Stunde geschlagen hat. Die Brauchbarkeit eines jeden würde
durch
Einteilung der Zeit, durch Aufmerksamkeit auf jede Stunde höchlichst gefördert.
Um das Zeitregime soll sich auch die Polizei kümmern nach dem robusten Grundsatz:
wer sich unbequem erweist wird beseitigt, bis er begreift wie

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