Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Werkes von
vorüber eilender Gestalt
müsse selbst ergänzen, was nicht
vollkommen ausgebildet
sei, eben den inneren Zusammenhang. Diese entwaffnend offene Zwischenrede findet sich allerdings nur in der ersten, wesentlich kürzeren Fassung der »Wanderjahre« von 1821. In der zweiten und letzten Fassung von 1829 fehlt sie. Das gehört zu Goethes Altersstil: er nimmt sich ganz einfach die Freiheit, die Heterogenität des Werkes zu belassen, ohne es eigens zu rechtfertigen. Die offene Form, in der Lyrik, Aphoristik, Erzählung, Betrachtungen und Briefe wechseln, soll für sich sprechen. Mit
Heiterkeit
verzichtete er auf die abgeschlossene Form.
Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene
, schrieb er einmal gelassen an Reinhard.
Die Arbeit an den »Wanderjahren« hatte tatsächlich, wie die
Zwischenrede
bekennt, mehrmals
gestockt
. An eine Fortsetzung der »Lehrjahre« dachte Goethe, als er 1796 noch dabei war, sie abzuschließen. Er ließ darin einiges stehen, was als Brückenpfeiler für eine Fortsetzung genutzt werden konnte, zum Beispiel Wilhelms Auftrag, sich auf Wanderschaft zu begeben. Zunächst schrieb er einige Erzählungen, die Eingang finden sollten in den Fortsetzungsband, bemerkte aber Schiller gegenüber, er verschließe das, was
idealistisch
an ihm sei, in ein
Schatullchen
in der Hoffnung, etwas damit anfangen zu können,
wenn man endlich zum Bewußtsein seiner eignen Besonnenheit kommt.
Mit anderen Worten: er sammelt und schreibt schon einiges für die »Wanderjahre«, doch die leitende Idee ist ihm noch nicht klar. Die Mehrzahl der Novellen und Erzählungen entstand bis 1807, die Altersweisheit der Makarien-Kapitel und einige sozialutopische Entwürfe kamen erst in den zwanziger Jahren dazu. Zwischen 1810 und 1819 wurde fast nichts am Roman geschrieben, erst nach Erscheinen des »West-östlichen Divan« machte er sich wieder daran und schloß die erste Fassung zügig ab. Er gab das Werk 1821 an die Öffentlichkeit, ohne das Gefühl zu haben, wirklich damit fertig zu sein. Die Resonanz war gering, mit grimmiger Lakonie bemerkte Goethe:
Der zweite Teil wird nicht mehr befriedigen als der erste, doch hoffe ich, demjenigen Leser, der diesen wohl gefaßt hat, genug zu tun
. Das mochte sein, doch es waren nur wenige, was Goethe jedoch nicht daran hinderte, für eine nächste Ausgabe Erweiterungen und Umarbeitungen vorzunehmen. 1829 erschien dann die Endfassung der »Wanderjahre«. Auch in dieser letzten Fassung bleiben die Heterogenität der Teile und die offene Form erhalten, werden sogar noch verstärkt durch die Einfügung von Maximen und Reflexionen, versammelt unter dem Titel »Aus Makariens Archiv« und »Betrachtungen im Sinne der Wanderer«. Gesprächsweise äußerte Goethe dem Kanzler Müller gegenüber, es sei albern,
das Ganze systematisch konstruieren und analysieren zu wollen
, da es sich nur um ein
Aggregat
handle. Diesen Aggregat-Charakter empfand er nicht als Mangel sondern als Zeichen besonderer Lebensnähe des Romans.
Mit solchem Büchlein aber
, schreibt er an Rochlitz,
ist es wie mit dem Leben selbst: es findet sich in dem Komplex des Ganzen Notwendiges und Zufälliges, Vorgesetztes und Angeschlossenes, bald gelungen, bald vereitelt, wodurch es eine Art von Unendlichkeit erhält, die sich in verständige und vernünftige Wort nicht durchaus fassen und einschließen läßt
.
Die angemessene Art, mit einem solchen Buch umzugehen, sei
die Teilnahme an hervortretenden Einzelheiten.
Nehmen wir das als Hinweis und begnügen uns, lediglich ein paar Einzelheiten hervorzuheben, die charakteristisch sind für Goethes letzte Lebensepoche.
Zunächst der von Goethe selbst so bezeichnete Aggregatcharakter des Romans. Es zeigt sich darin, wie bereits angedeutet, daß die Form des Romans das Problem spiegelt, das er behandelt. Denn er schildert ja, wie in der zerstreuenden Wirklichkeit die geistigen Prinzipien in jene
Bedrängnis
geraten, von der in der Plotin-Kritik die Rede ist. Der Roman hat also gerade darin seine Lebensnähe, daß er sich eben nicht zu einem homogenen Werk schließt. Wie das Leben, ist dieser Roman disparat, er enthält
Notwendiges und Zufälliges
, er ist nicht so schön übersichtlich und geordnet, wie man sich das vielleicht wünscht, doch gerade deshalb ist ihm eine bestimmte
Art von Unendlichkeit
eigentümlich. Es ist die Unendlichkeit des Unfertigen, dem stets Neues und Andersartiges angefügt werden könnte. Ein Unendliches, dem das Ende nur von außen
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