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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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Voraussetzung dafür allerdings ist die Beseitigung eines platonisch-plotinschen Vorurteils, das unterschwellig bis in die Gegenwart wirkt: Daß nämlich der Übergang von der Idee zur Wirklichkeit stets eine Verminderung sei, analog zum höheren Rang des göttlichen Schöpfers gegenüber seiner Schöpfung. Deshalb fährt Goethe in seiner Plotin-Kritik fort:
Eine geistige Form wird aber keineswegs verkürzt wenn sie in der Erscheinung hervortritt, vorausgesetzt daß ihr Hervortreten eine wahre Zeugung, eine wahre Fortpflanzung sei. Das Gezeugte ist nicht geringer als das Zeugende, ja es ist der Vorteil lebendiger Zeugung, daß das Gezeugte vortrefflicher sein kann als das Zeugende
.
    Was Goethe hier andeutet, ist nichts anderes als der Gedanke der natürlichen Evolution, die über die Lebenserhaltung hinaus dem Prinzip der Lebenssteigerung folgt. Der Geist vermindert sich also nicht im Wirklichen, im Gegenteil: Er treibt das Wirkliche aus dem Dumpfen, In-Sich-Verschlossenen hinaus ins Helle – bis dieser Geist, der das Ganze unbemerkt durchwaltet, endlich im menschlichen Geist sich selbst bemerkt. Der Geist vermindert sich also nicht in der Natur, im Gegenteil: er kommt in ihr zum Vorschein, als produktives Prinzip, das sich endlich im Menschen selbst begreift. Dieser Prozeß ist das lebendige Zeugungsgeschehen, ein Steigerungs-Geschehen. Es ist dies letztlich der Gedanke von dem werdenden Gott in der Natur.
    Was ist an diesem Gedankenzusammenhang nun das ›Indirekte‹? Für Goethe ist das Transzendente nie direkt – auf dem Wege irgendwelcher aparter Offenbarungen – erfaßbar, sondern nur immanent, im empirischen Geschehen für eine vertiefte empirische Erfahrung. Das Transzendente ist das Wirkende, und deshalb ist es auch nur an seinen Wirkungen zu erfassen. Es ist das im Äußeren treibende und innerlich umtreibende Prinzip des Lebendigen, ein Rätsel, dem man besser auf die Spur kommt im praktischen Vollzug des Lebens als in der Theorie.
    Doch dieses praktische Leben hat seine Tücken. Es führt mitten hinein in die gesellschaftlichen Verflechtungen. Was im Einzelnen an Erfahrungen, Absichten, Wünschen und Hoffnungen im Innern lebt, kommt niemals rein zum Ausdruck. Es gibt die natürlichen Widerstände, vor allem aber das gesellschaftliche Medium, durch das die Ideen gebrochen, abgelenkt, verzerrt werden. Die
Bedrängnis
am gesellschaftlichen Ort ist die durch Neid, Konkurrenz, Mißbilligung, Gleichgültigkeit, hektische Betriebsamkeit und – von Goethe besonders hervorgehoben – durch Gerede verursachte.
Mich ängstigt das Verfängliche / Im widrigen Geschwätz, / Wo nichts verharret, alles flieht, / Wo schon verschwunden was man sieht; / Und mich umfängt das bängliche, / Das graugestrickte Netz.
    Nicht ausschließlich, aber doch vorrangig nimmt Goethe mit zunehmendem Alter die Gesellschaft als ein solches
graugestricktes Netz
wahr
,
worin man sich allzu leicht verfängt und um sein Bestes betrogen wird. Später wird man das ›Entfremdung‹ nennen. Man muß sich maskieren, noch schlimmer, es wird einem eine Maske aufgesetzt, und am Ende weiß man gar nicht mehr, wer man denn nun wirklich ist. So kann es einem geschehen,
daß zwischen das Beste und Erfreulichste der absurde Weltlauf sich immer hineindrängt.
    Solche Gesellschaftskritik hat natürlich eine lange Tradition, aber auffällig ist doch, daß Goethes Unbehagen an der Gesellschaft in dem historischen Augenblick zunimmt, als die Gesellschaft in der Folge der Französischen Revolution als Ort der Idee und der Wahrheit entdeckt wird. Es war Hegel – Goethe hatte ihn nach Jena berufen und verkehrte fast freundschaftlich mit ihm –, der auf höchstem philosophischen Niveau die so verstandene Gesellschaft adelte. Seit Hegel gibt es diesen neuen Typus des Philosophierens. Zuvor dominierte die überschaubare Dualität: hier der Mensch und dort das Sein, ob göttlich oder natürlich. Seit Hegel schiebt sich nun die neu entdeckte Welt der Gesellschaft zwischen die beiden Pole. Die Gesellschaft (mitsamt ihrer Geschichte) wird nun zu jenem Absoluten, worin alle sonstigen Gegensätze und Polaritäten enthalten sind. Gesellschaft ist, nach Hegel, objektiver Geist. Bisher war Gesellschaft bloß wirklich, jetzt wird sie eine Wahrheit. Die alte Metaphysik des Seins verschwindet in dieser neuen Metaphysik der Gesellschaft, und die alten religiösen Einstellungen – Glaube, Liebe, Hoffnung – werden auf die Gesellschaft und ihre Fortschritte bezogen.

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