Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
widerfährt, als Abbruch und nicht als Vollendung. Wenn das Leben nicht eine solche Vollendung erreichen kann, wie ist es dann aber möglich, in der Wirrnis der gesellschaftlichen Lebensumstände eine
Persönlichkeit
, wie es im »West-östlichen Divan« heißt, zu werden? Einige Möglichkeiten und Unmöglichkeiten werden im Roman ausgelotet.
Da ist der junge Mann, der sich einer verwitweten Frau und ihres Kindes angenommen hat und ein Leben zu führen bestrebt ist, wie es in den Legenden über Joseph und Maria geschildert wird. Am Ende gleichen die drei wirklich der Heiligen Familie, wie man sie von alten Gemälden her kennt – oder auch von den Bildern der Nazarener, auf die Goethe eigentlich nicht so gut zu sprechen war. Deshalb bleibt auch in der Schwebe, ob der Lebensweg des
Sankt Joseph des Zweiten
, der durch Hingabe an ein Vorbild seinen Weg durch die Wirrnis des Lebens findet, nicht doch nur ein, wenn auch anmutiges, Beispiel für die Macht des Abgelebten ist:
Das Leben gehört den Lebendigen an, und wer lebt, muß auf Wechsel gefaßt sein.
Joseph der Zweite entgeht dem Wechsel, solange er sich und die Seinen ins Bild fügt. Wilhelm fühlt sich in eine
wundersam altertümliche Stimmung
versetzt, es ist ihm, als versänke er in einen Traum und sehe vor sich die Abfolge bewegter Bilder. Auch in ihm rührt sich das Verlangen, in solchen Bildern zu verschwinden. Wie aus ziehenden Träumen wird er geweckt in der Begegnung mit Jarno, der uns von den »Lehrjahren« her als Zyniker bekannt ist und nun Montan genannt wird.
Joseph gleicht den Bildern, die er verehrt; Montan gleicht den Steinen, die er erforscht und sammelt. Ihre stumme Präsenz zieht er dem Gerede der Menschen vor. Der Stein ist hart und dauert, der Mensch aber ist wandelbar und hinfällig. Der Stein ist undurchdringlich, der Mensch ist durchlässig und verletzlich. Montan liebt die Steine mehr als die Menschen, denen er den Rücken gekehrt hat.
Die Menschen wollt’ ich meiden. Ihnen ist nicht zu helfen, und sie hindern uns, daß man sich selbst hilft.
Die beiden Figuren, denen wir in diesem Roman zuerst begegnen, repräsentieren also zwei Extreme. Joseph der Zweite lebt seinem Vorbild nach und findet dort seinen Mittelpunkt. Montan immunisiert sich gegen alle möglichen Einflüsse, undurchdringlich wie ein Stein. Er verkörpert das
selbstische
Prinzip in der härtesten Form. Montan ist es auch, der das in den »Lehrjahren« verkündete Ideal der allseitigen Bildung verwirft. Man soll sich spezialisieren, erklärt er, und nicht geschmäcklerisch herumflattern und da und dort naschen. Nicht allseitige Aufnahmebereitschaft, sondern Härtung für eine bestimmte Funktion. Nicht Bildung, sondern Ausbildung tut not, davon profitiert die Gesellschaft – und man selbst, denn man verliert sich nicht in der Zerstreuung.
Ja es ist jetzo die Zeit der Einseitigkeiten
, erklärt er, und fordert vom vielseitig angeregten Wilhelm:
Mache ein Organ aus dir und erwarte, was für eine Stelle dir die Menschheit im allgemeinen Leben wohlmeinend zugestehen werde.
Ausgerechnet der einsiedlerische Montan fordert Brauchbarkeit für den Gesellschaftsmechanismus. Das hat indes seine Folgerichtigkeit. Der Liebhaber der Steine kommt von der Selbstverdinglichung zur Selbstversteinerung. Kein Wunder, daß Wilhelm, der einst
im menschlichen Herzen den wahren Schatz gesucht
hat, die Reden Montans nur schwer ertragen kann. Mit Montan verhält es sich übrigens ähnlich wie mit anderen Figuren des Romans. Sie bleiben sich nicht gleich und sind nicht dazu verurteilt, lediglich ihr Prinzip durchzuführen. So wird Montan im Fortgang des Romans wieder milder, seine Misanthropie verwandelt sich in Skepsis und Vorsicht. Gleichwohl bleibt er zuständig für einen strengen Realismus, der sich alle Romantik und Sentimentalität verbietet.
Auch die nächste Station ist nicht besonders erfreulich, das Landgut des Oheims. Bezeichnenderweise geraten Wilhelm und sein Sohn Felix dort zunächst in Gefangenschaft. Der Oheim pflegt seine Gäste so zu empfangen, und es stellt sich bald heraus, daß die dort herrschenden Lebensregeln nur eine andere Art von Gefangenschaft bedeuten. Der Geist dieser Lebensregeln ist ähnlich utilitaristisch und antipoetisch gerichtet wie Montan. Über den Türen der Arbeitshäuser prangt der Spruch:
Vom Nützlichen durchs Wahre zum Schönen
. Das Nützliche und Brauchbare steht also auch hier im Vordergrund. Durch dieses Nadelöhr muß die Schönheit hindurch, sonst
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