Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Einschwingen in Zeit und Unendlichkeit, der Musik der Sphären. Makarie ist dabei, dorthin zu entschwinden, hinzuschwinden,
sie scheint nur geboren um sich von dem Irdischen zu entbinden, um die nächsten und fernsten Räume des Daseins zu durchdringen
.
Auf dem Höhepunkt dieser himmlischen Ausschweifungen wentet sich der Erzähler wieder ans Bodenpersonal mit den Worten:
Indem wir nun diese ätherische Dichtung, Verzeihung hoffend, hiermit beschließen, wenden wir uns wieder zu jenen terrestrischen Märchen.
Der Untertitel des Romans lautet in beiden Fassungen
Die Entsagenden
. Was bedeutet Entsagung? Der Verzicht, etwas zu verwirklichen, obwohl man es eigentlich wünscht und einen vieles dazu drängt. Das kann eine Beziehung sein, ein Tun, ein Besitz. Entsagung ist mit Opfer verbunden. Man kann nicht nur dem entsagen, was man schon hat, sondern auch dem Streben danach. Man muß nur irgendeinen Anteil haben am Entsagten, und wenn es das Streben danach ist. Wo gar kein solcher Anteil besteht, kann und braucht man nicht zu entsagen.
Warum aber sollte man nun entsagen? Darüber hat sich Goethe im vierten Buch von »Dichtung und Wahrheit«, geschrieben Ende der zwanziger Jahre, im Anschluß an eine Betrachtung über Spinoza fast programmatisch ausgesprochen.
Unser physisches sowohl als geselliges Leben
〈...〉
alles ruft uns zu daß wir
entsagen
sollen.
Warum? Um einem größeren Verlust vorzubeugen. Wenn man stets aufs Neue sich an das hängt, was einem die Zeit schließlich nimmt, wird man immer wieder enttäuscht. Dann kann es sinnvoll sein,
um allen partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im Ganzen resignieren.
Das kann Verzicht bedeuten, doch genügt bisweilen auch ein innerliches Loslassen, ein Haben als hätte man nicht. So macht man sich enttäuschungsfest, und darum gilt, mit Heidegger zu reden, daß der Verzicht nicht nimmt, sondern gibt.
Auch der Verzicht auf Verwirklichung, der Überschuß von Nichtrealisiertem, und die Willensstärke dieses Verzichtes können die Persönlichkeit bereichern. Bei drohendem Verlust wird der Entsagende sich besser bewahren können. Wer nicht entschlossen entsagt, wird verzweifelt verzichten müssen. Der Entsagende behält seine Souveränität, doch manchmal ist es dann auch das einzige, was er behält, und das könnte dann zu wenig sein.
Selbstverständlich ist der heiße Kern der Entsagung die erotische. Deshalb sind die eigentlich Entsagenden in den »Wanderjahren« Wilhelm und Natalie. Sie haben sich am Ende der »Lehrjahre« gefunden, verzichten aber nun darauf, den Liebesbund anders als nur in Briefen zu realisieren. Warum eigentlich? Um die erotische Spannung aufrechtzuerhalten, die in der sexuellen Befriedigung vielleicht allzu bald erlischt? Entsagung, um das Verlangen und die Sehnsucht wachzuhalten? Das mag für Wilhelm und Natalie gelten. Nicht aber für die fragwürdigen Gesellschaftsentwürfe des Romans. Dort soll ja, wie wir gehört haben, auch noch die Sehnsucht im Tun und Wirken
verschwinden
, indem man den praktischen
Forderungen des Tages
genügt.
Auch Wilhelm hat sich inzwischen von den Träumen seiner Jugend gelöst. Die Kunstwelt, insbesondere das Theater, hatte ihm einst das verwandlungsreiche Leben, seine Proteus-Natur, spüren lassen; der Turm-Staat und der Bund der Auswanderer, die pädagogische Provinz, das Landgut des Oheims – das sind die allzu ordentlichen Gegenwelten, die jedem seinen nützlichen Platz zuweisen. Auch das ist Entsagung. Sie durchstimmt den ganzen Roman.
Warum aber diese prosaische Roßkur? Es ist erstaunlich, daß Goethe in seinem Roman keine befriedigende Antwort darauf gibt. Wahrscheinlich muß man sie eher in seinem Leben suchen.
Anmerkungen
Zweiunddreißigstes Kapitel
Erinnerungsarbeit. Wiederholte Spiegelung. Zwischen Wänden
aus Papier. Der alte Goethe unter Menschen. Warum immer
dasselbe denken? Gegen den Zeitgeist, für die Karlsbader Beschlüsse.
Dreimal Marienbad. Ulrike und die Elegie. Abschiede.
Als Goethe im Frühsommer 1816 heil aus der verunglückten Kutsche stieg, die ihn zu Marianne Willemer auf die Gerbermühle hätte bringen sollen, und er, den Unfall als schlechtes Omen deutend, fortan darauf verzichtete, Marianne zu besuchen und ihr eine Weile lang auch nicht mehr schrieb, da war das für ihn wirklich eine Entsagung. Er ließ auch den »West-östlichen Divan« ein paar Jahre unvollendet liegen, sich wehmütig der Stimmung von einst erinnernd und auf ihre Wiederkehr
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