Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
ersten Mal auf sich selbst an. Er sieht sich wie ein Traumwandler herumgehen, er weiß, daß er nur so hat handeln können. Man braucht Unbekümmertheit, der Handelnde müsse gewissenlos sein, wird er später erklären. Anders wäre er jedenfalls zu Bewegungslosigkeit verurteilt gewesen. Handeln und Schaffen heißt sich verengen, auch sich abschließen, um dann etwas hervorbringen zu können, das seine eigene Weite besitzt. Und darum liest er ganz gerne in seinen alten Schriften und Manuskripten. Er liest in sich selbst, und es wird ihm dabei innerlich weit. Doch lieber will er sich selbst erinnern als erinnert werden, denn auf Anfragen Bettine von Arnims antwortete er nicht. Er hatte ihr wohl auch nicht verziehen, daß sie im Streit Christiane »dicke Blutwurst« genannt hatte.
Es ist nach dem Tod Christianes einsamer geworden im großen Haus am Frauenplan. Im Dachgeschoß wirtschaften Ottilie und August. Es gibt dort viel Streit und Lärm. Den Lärm der Enkelkinder kann Goethe ganz gut vertragen, den der anderen nicht. Goethe täuschte sich, als er über die jungen Eheleute schrieb,
sie paßten zusammen und wenn sie sich auch nicht liebten.
Nicht nur liebten sie sich nicht, sie paßten auch nicht zusammen, und darum kam großer Unfriede ins Haus. Zuweilen war es gar nicht auszuhalten, dann zog Goethe ins Gartenhaus. Häufig wich er auch nach Jena aus, auch wenn dort kein Schiller, Schelling oder ein Humboldt mehr anzutreffen war.
Dem Kanzler Müller vertraute er einmal an, wie er sich ein Leben im Haus am Frauenplan wünscht.
Sollte es nicht möglich sein, daß eine ein für allemal gebetene Gesellschaft sich täglich, bald in größerer, bald in kleinerer Zahl, in meinem Hause zusammen fände? Jeder käme und bliebe nach Belieben, könnte nach Herzenslust Gäste mitbringen. Die Zimmer sollten von Sieben Uhr an immer geöffnet und erleuchtet, Tee und Zubehör reichlich bereit sein. Man triebe Musik, spielte, läse vor, schwatzte, alles nach Neigung und Gutfinden. Ich selber erschiene und verschwände wieder, wie der Geist es mir eingäbe. Und bliebe ich auch mitunter ganz weg, so dürfte dies keine Störung machen
〈...〉
So wäre denn ein
ewiger Tee
organisiert, wie die ewige Lampe in gewissen Kapellen brennt.
Ein Haus der offenen Tür, ein Kommen und Gehen wie im Gasthaus, fortwährend Geselligkeit, bei der man nicht immer zugegen sein braucht und doch stets der Mittelpunkt bleibt. Erstaunlich nur, daß es sich dabei um einen
ewigen Tee
handeln sollte, Wein wäre eigentlich passender in einem Hause, wo er sonst so reichlich floß, beim Hausherrn unten und bei den jungen Leuten oben. Doch leider war das Leben nicht so leicht und beschwingt, weder mit Wein noch mit Tee. Bei den gesetzten Essen ging es inzwischen ziemlich steif zu. Es kamen viele Leute ins Haus, der Strom von Besuchern riß nicht ab. Man machte seine Aufwartungen und Goethe gab Audienzen, manchmal beiläufig manchmal prunkend, mit dem Ordensstern auf der Brust, die Hände im Rücken verschränkt, ein paar Fragen stellend und mit seinem berühmten
Hm Hm
antwortend. Unvergeßlich aber die großen, wachen, schauenden Augen. Gewöhnlich wurde man nicht zum Sitzen aufgefordert. Gelegentlich aber kam es vor, daß Goethe Feuer fing und dann tönte die sonore, sanft fließende Stimme mit Worten, wie an der Perlenschnur aufgereiht. Plötzlich keine Anspannung mehr, weder beim Sprechenden noch beim Hörenden. Aber das kam nicht mehr so häufig vor. Bisweilen blieb Goethe auch ganz schweigsam. Riemer, Meyer, Eckermann, die getreuen Helfer, mußten ihm an manchen Abenden Gesellschaft leisten, an denen ihm nicht zum Reden zumute war und er doch nicht allein bleiben wollte. Dann saß diese ganze Runde vor dem Weinglas und – schwieg.
Doch wenn er mitteilsam war, mußte man sich auf Überraschungen gefaßt machen. Da er von Meinungen nicht viel hielt, spielte er gerne mit ihnen, auch um die Gesprächspartner zu irritieren oder womöglich sogar vor den Kopf zu stoßen. Zu Kanzler Müller, dem gegenüber Goethe besonders gerne den Mephisto spielte (bei Eckermann gab er eher den Faust), äußerte er:
Ey, bin ich denn darum 80 Jahr alt geworden, daß ich immer dasselbe denken soll? Ich strebe vielmehr, täglich etwas anderes,
Neues
zu denken, um nicht langweilig zu werden. Man muß sich immerfort verändern, erneuen, verjüngen, um nicht zu verstocken.
Die öffentlich-amtliche Rolle, die er spielen mußte, erleichterte ihm solche Verjüngung nicht. Als
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