Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
hoffend, mit halber Resignation.
Aber uns ist wonnereich / In den Euphrat greifen, / Und im flüßgen Element / Hin und wieder schweifen
. Nach solchem
Schweifen
war ihm zur Zeit nicht zumute, und er empfand es wie ein Geschenk des Schicksals, daß jene zauberhafte Stimmung für kurze Zeit wiederkehrte, als er 1818 die Druckbogen des »West-östlichen Divan« zur Korrektur erhielt. Sonst aber achtete er noch mehr als früher darauf, die innere Bewegung nicht merken zu lassen und sich im Umgang förmlich und distanziert zu geben. Das bekam auch Charlotte Buff, verwitwete Kestner, die Lotte aus Wetzlar, zu spüren, als sie im September 1816 zu Besuch bei ihrem Schwager Ridel in Weimar weilte und einmal auch bei Goethe eingeladen war. Ihrem Sohn berichtete sie: »Ich habe eine neue Bekanntschaft von einem alten Mann gemacht, welcher, wenn ich nicht wüßte, daß er Goethe wäre, und auch dennoch, hat er keinen angenehmen Eindruck auf mich gemacht. Du weißt, wie wenig ich mir von diesem Wiedersehen oder vielmehr dieser neuen Bekanntschaft versprach. War daher sehr unbefangen. Auch tat er nach seiner steifen Art alles mögliche, um verbindlich gegen mich zu sein.« Charlotte wurde begleitet von ihrer Tochter, auf die jene Begegnung ebenfalls erkältend wirkte. Sie berichtet: »Leider aber waren alle Gespräche, die er führte, so gewöhnlich, so oberflächlich, daß es eine Anmaßung für mich sein würde, zu sagen, ich hörte ihn sprechen oder ich sprach ihn; denn aus seinem Innern oder auch nur aus seinem Geiste kam nichts von dem, was er sagte.«
Goethe hatte erst vor kurzem im dritten Teil von »Dichtung und Wahrheit« seine Erinnerungen an Wetzlar und die Werther-Liebe dargestellt. Ihm war also jene längst versunkene Welt wieder nahe gerückt. Vielleicht scheute er gerade deshalb die Begegnung mit dem, was davon übrig geblieben war. Wenn Charlotte enttäuscht von ihm war, so er auch von ihr. Ihre Gegenwart wirkte stumpf gegen das Erinnerungsbild. Nichts vom Zauber
wiederholter Spiegelung
, die sich für ihn offenbar nur bei der literarisch gestalteten Erinnerung einstellte.
Wiederholte Spiegelung
nennt er einen Vorgang, dem analog, der sich bei den sogenannten »entoptischen Farben« ergibt, wenn Farben in soeben noch durchglühten jetzt aber abgekühlten Spiegelscheiben erscheinen, wobei sie sich in den einander gegenüber gestellten Spiegeln noch verstärken und an Intensität gewinnen. So verhält es sich, nach Goethe, auch bei der literarisch bearbeiteten Erinnerung.
Bedenkt man nun, daß wiederholte
〈...〉
Spiegelungen das Vergangene nicht allein lebendig erhalten, sondern sogar zu einem höheren Leben empor steigern, so wird man der entoptischen Erscheinungen gedenken.
Eine Steigerung der Erinnerungsbilder gibt es im literarischen Medium, nicht aber bei der persönlichen Begegnung nach so vielen Jahren. Man saß eine Weile beieinander und fühlte sich wie auf dem Trockenen. Erst Thomas Mann vermochte dem mißglückten Wiedersehen wieder einigen literarischen Reiz abzugewinnen.
Bei der Arbeit an der Autobiographie, die Goethe auch nach Veröffentlichung der ersten drei Teile von »Dichtung und Wahrheit« fortsetze, verstärkte sich das Gefühl der Fremdheit der gegenwärtigen Welt gegenüber. An Zelter schrieb er:
Ich
führe meine eigene Art zu leben, die Du kennst, immer fort, seh wenig Menschen und lebe eigentlich nur in der Vergangenheit, indem ich alte Papiere aller Art zu ordnen und zu redigieren trachte
. Einst hatte ihm der kranke Schiller geklagt, er säße zwischen Wänden beschriebenen Papiers. So kommt sich Goethe jetzt zuweilen auch vor.
Meinen Winter
, wieder an Zelter,
bring ich beinahe in absoluter Einsamkeit zu, diktiere fleißig so daß meine ganze Existenz wie auf dem Papiere steht.
Was er zu Papier bringt, ist eine Spiegelung der Spiegelung, also dessen, was er einst geschrieben hat, und er wundert sich dabei rückblickend über die eigene Unbekümmertheit.
Man fühlt wohl das frühere Bestreben ernst und tüchtig zu sein,
schreibt er an Boisserée,
man lernt Vorzüge an sich selbst kennen, die man jetzt vermißt
〈...〉
. Dazu kommt noch, daß das Jahrhundert auf rechten und falschen Wegen nach allen Seiten in die Breite geht, so daß eine unschuldig Schritt vor Schritt sich bewegende Naivität wie die meinige vor mir selbst eine wundersame Rolle spielt.
Er hatte es sich einst gefallen lassen, als Schiller ihn unter die »Naiven« rechnete, nun wendet er diese Charakterisierung zum
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