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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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der fast Achtzigjährige:
Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nicht ferner auszuhalten vermag
.
    Der Mensch erfüllt seine Bestimmung, wenn er als »natura naturata« teilhat an der »natura naturans«. Natur als schöpferischer Prozeß bedeutet Polarität und Steigerung, so Goethes dialektische Formel. Die Gegensätze bewirken eine Spannung, die das Lebendige zur Steigerung anreizt, ohne im Dualismus zu erstarren. Licht und Finsternis sind solche Polaritäten, die zusammen die farbige Welt entstehen lassen, und auch mit Gut und Böse verhält es sich so. Das Gute wird noch besser, wenn es durch die Feuerprobe des Bösen hindurchgegangen ist. Wie man sich das vorzustellen hat, erläutert der
Herr
im »Prolog im Himmel«.
Ich habe deinesgleichen nie gehaßt
, sagt er zu Mephisto.
Von allen Geistern die verneinen, / Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last. / Des Menschen Tätigkeit kann allzuleicht erschlaffen, / Er liebt sich bald die unbedingte Ruh; / Drum geb’ ich gern ihm den Gesellen zu, / Der reizt und wirkt, und muß, als Teufel, schaffen
.
    Mephisto bewahrt den Menschen vor Erschlaffung und hält ihn rege. Das Prinzip Mephisto gehört also zum Menschen. Und insofern gehört Mephisto auch zu Faust. Faust und Mephisto, treten zwar als eigenständige Figuren auf, bilden aber letztlich zusammen eine Person, so wie Goethe auch von sich selbst sagte, er sei ein Kollektivsingular und bestehe aus mehreren Personen gleichen Namens. Faust spricht die widersprüchliche Einheit, die ihn mit Mephisto verbindet, unumwunden aus:
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, / Die eine will sich von der andern trennen; / Die eine hält, in derber Liebeslust, / Sich an die Welt, mit klammernden Organen; / Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust / Zu den Gefilden hoher Ahnen.
Die prekäre Einheit der Person hindert indes nicht, ihre einzelnen Pole gesondert ins Auge zu fassen, um zu verfolgen, was sie beitragen zur Steigerung des Ganzen.
    Mephisto, sagt also der
Herr
, wird dem Menschen als
Gesellen
beigegeben, damit er nicht erschlaffe in vorzeitiger Ruhe. Wie kommt es zur belebenden Wirkung? Durch den Geist der Verneinung, durch Kritik. Mephisto ist ein verneinender Geist. Was verneint er? Im »Prolog im Himmel« können wir ihn bei seiner ersten bedeutsamen Verneinung beobachten: Die Engel rühmen den Kosmos und die hohen Werke des
Herrn
. Alle jubeln, nur Mephisto mäkelt. Als verneinender Geist ist er der kritische Rezensent des Kosmos. Was hat er zu beanstanden? Nichts weniger als einen entscheidenden Konstruktionsfehler beim Menschen. Mephisto:
Von Sonn’ und Welten weiß ich nichts zu sagen, / Ich sehe nur wie sich die Menschen plagen. / Der kleine Gott der Welt bleibt stets von gleichem Schlag, / Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. / Ein wenig besser würd’ er leben, / Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; / Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein / Nur tierischer als jedes Tier zu sein.
    Mephisto skizziert seine Anthropologie. Der Mensch hat ein wenig
Himmelslicht
, man nennt es
Vernunft
. Er hat aber zu wenig davon, um wirklich vernünftig zu sein, und zu viel, um mit seiner animalischen Existenz in Übereinstimmung zu bleiben. Das animal rationale enthält also einen Konstruktionsfehler. Das Tierische und das Vernünftige behindern sich wechselseitig. Mephisto argumentiert wie die skeptische moderne Anthropologie, die den Menschen als »exzentrisches Wesen«, als »Mängelwesen« oder gar als »Irrläufer der Evolution« bezeichnet, weil bei ihm Instinkte und Vernunft nicht ausbalanciert sind, mit den bekannten Folgen: Todesangst, Selbstzerstörung, Umweltzerstörung, Aggression.
Gib nur erst Acht, die Bestialität / Wird sich gar herrlich offenbaren
, warnt Mephisto. Der Mensch kann abstürzen in die Bestialität, ganze Kulturen können das, und er kann, wieder mit den Worten Mephistos,
tierischer als jedes Tier
sein. Das war auch die These von Friedrich Schiller, und es ist gut möglich, daß Goethe sich von ihm zu diesem Gedanken anregen ließ.
    Mephisto also verspricht, bei der prekären und riskanten Konstruktion des Menschen eine Verbesserung herbeiführen zu können. Und zwar dadurch, daß er beispielhaft am Faust den Menschen vom Widerspruch zwischen Himmel und Erde, zwischen

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