Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
möglich, daß sich hinter der Pforte des Todes eine
Götterhöhe
auftut, ebenso ist es aber auch möglich, daß man
ins Nichts
zerfließt. Dort die metaphysischen Ungewißheiten, hier die physischen Gewißheiten. Er zieht es vor, hier zu bleiben. Er nimmt das Gift nicht. Zum Weiterleben ermuntert ihn zuerst der Glockenklang des Osterfestes, dann aber Mephisto. Der verspricht ihm eine Welteinbürgerung mit Haut und Haar, die Fülle des Daseins, den vollen Realitätsgenuß. Ich diene dir jetzt und hier, sagt Mephisto, und, wenn wir uns
drüben
wiedertreffen, dienst du mir. Das ist zunächst der übliche Teufelspakt, auf den Goethe anspielt. Aber dazu kommt es nicht, sondern zu einer Wette, und sie hat einen ganz anderen Sinn. Ihre Formel lautet:
Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen.
Betrachten wir die Wette vom Standpunkt Fausts. Er zeigt sich in seinem Erfahrungshunger zugleich von eigenartigem Stolz erfüllt: Sein Verlangen soll größer sein als die Welt. Er will beweisen, daß die Welt zu klein und zu eng ist, um ihm genügen zu können. Man muß aber sogleich, um Mißverständnisse zu vermeiden, hinzusetzen, daß es sich dabei um eine Welt handelt, die gesehen und dargeboten wird unter der Optik Mephistos. Es ist die zum obskuren Objekt der Begierde reduzierte Welt. Mephisto bietet Faust die Welt als Lustquantum an. Und Faust will beweisen, daß ihm eine solche zum Lustobjekt verdinglichte Welt nicht genügt. Mephisto verwandelt die Welt in ein konsumierbares Angebot, und Faust will beweisen, daß er mehr ist als ein Konsument, will die Unstillbarkeit seines metaphysischen Verlangens beweisen. Mephisto aber wettet darauf, daß sich das metaphysische Verlangen erledigt, wenn man nur die Weltangebote, die er im Programm hat, tüchtig konsumiert. Faust will beweisen, daß seinem Streben kein Augenblick genügen kann, und Mephisto will ihn auf das
Faulbett
legen. Mephisto bietet dem Faust die Wonnen der Gewöhnlichkeit an. Er soll erkennen, daß er auch nur
ein Mensch mit Menschen
ist, eben ein Weltverbraucher.
Mephisto, den wir zuerst als verneinenden Geist kennen gelernt haben, wird durch diese Wette zum produktiven Prinzip. Zwischen Faust und Mephisto gibt es genau jene polare Spannung, die zur Steigerung führt. Erst im Wettstreit mit Mephisto wird Faust wirklich faustisch. Wie das?
Faust strebt hinauf, und Mephisto zieht hinunter. Die Pointe dabei ist, daß weder der ›reine‹ himmelstürmende Faust, noch der ›reine‹ zur Erde herabziehende Mephisto triumphieren, sondern das Resultat dieser gegenstrebigen Bewegungen ›hinauf‹ und ›hinunter‹ ist die Bewegung ›hinaus‹. Weder eine vertikale Transzendenz noch reine Immanenz, sondern etwas Drittes, nämlich ein immanentes Transzendieren ist die Folge. Von Mephisto gereizt, wird Faust zu einem erfahrungshungrigen Grenzüberschreiter auf horizontaler Ebene. Es drängt Faust ›hinaus‹, hinaus ins volle Leben. Mephistos Zaubermantel verhilft dem erfahrungshungrigen Faust zu einem Praktikum vor Ort. Das vertikale Verlangen wird abgelöst von einer spannungsreichen Horizontalen, woraus etwas überaus Produktives entsteht. Im einzelnen stellt sich der Mechanismus dieses Spiels zwischen Mephisto und Faust so dar: Mephisto bietet handfeste Genüsse an, und Faust macht etwas Sublimes daraus. Nehmen wir Gretchen. Mephisto verschafft sie ihm als Sexualobjekt, aber Faust verliebt sich. Aus Sexualität wird Erotik, aus Begierde wird Begeisterung. Nach diesem Muster geht es auch sonst zu. Mephisto schafft an – und Faust macht mehr daraus.
Im Zusammenspiel des Metaphysikers Faust und des Realisten Mephisto zeigt sich das Betriebsgeheimnis der Moderne. Wir werden nämlich Zeuge, wie die ehemals vertikal gerichtete Strebung in die Horizontale umgebogen und dadurch unerhört geschichtsmächtig wird. Die Moderne will nicht mehr hinauf, denn sie hat entdeckt, daß der Himmel leer ist. Gott ist tot. Aber die überschwengliche Leidenschaft, die einst dazu führte, daß man Gott erfand, weil nur Gott geräumig genug erschien, um den Reichtum des Menschen in sich aufzunehmen, diese großgesinnte Leidenschaft ist in der Moderne säkularisiert worden, und das hat zu dem frappierenden Ergebnis geführt, daß man klein vom Menschen denken und doch Großes mit ihm anstellen kann. Die ehemals gottbezogene Leidenschaft ist zur Leidenschaft der Welterkundung und Weltbemächtigung geworden. Genau das
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