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Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)

Titel: Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rüdiger Safranski
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bedeutet die Bewegung ›hinaus‹. Statt sich Gott nähern zu wollen, umrundet man die Erde. Die Moderne ist nicht mehr kosmisch gesinnt, sondern global. Mit der Wette zwischen Faust und Mephisto und dem daraus sich ergebenden dynamischen Geschehen vollzieht sich vor unseren Augen die folgenreiche Umwandlung des metaphysischen Furors in eine Antriebskraft für die zivilisatorische Weltbemächtigung. Mit Mephistos Hilfe hat Faust Glück bei den Frauen, saniert Staatsfinanzen, schafft Brot und Spiele, wird zum erfolgreichen Kriegsherrn und schließlich zu einem Kolonisator großen Stils. Er läßt Deiche bauen und gewinnt dem Meer Land ab. In der Schule des Mephisto wird Faust zu einem physisch gesinnten Metaphysiker, der die Welt nicht übersteigt, sondern obsessiv in ihr aufgeht und deshalb vom Menschen fordern kann:
Er stehe fest und sehe hier sich um; / Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm, / Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen.
    Goethe malt sich aus, was die Moderne so alles mit dem Menschen noch machen könnte, zum Beispiel könnte sie ihn im Labor herstellen. Die Homunkulus-Szenen sind Goethes Beitrag zum Nachdenken über Anthropotechnik. Es ist nicht Faust selbst, sondern sein gelehriger Schüler Wagner, dem es schließlich gelungen ist, im Reagenzglas etwas Ungeheures zustande zu bringen.
Die Glocke tönt, die fürchterliche, / Durchschauert die berußten Mauern
– diese Worte eröffnen die Szene im Laboratorium, und Wagner, im entscheidenden Stadium seiner Experimente, flüstert:
Es wird ein Mensch gemacht
. Die ursprüngliche Idee Goethes war es, Faust selbst dieses Werk verrichten zu lassen, dann verschob er die Tat auf Wagner, doch sollten Faust und Mephisto zugegen sein und vor allem: Das Werk sollte gelingen. Das
chemisch Menschlein
〈...〉
zersprengt Augenblicks den leuchtenden Glaskolben und tritt als bewegliches wohlgebildetes Zwerglein auf.
In der endgültigen Fassung aber liegt Faust noch in Ohnmacht, und nur Mephisto ist zugegen, allerdings nicht nur als Zeuge, sondern mitwirkend. Die entscheidende Veränderung gegenüber dem ersten Entwurf ist die Tatsache, daß Homunkulus eben nicht ein fertiger Mensch ist, sondern nur halb zur Welt kommt. Er bleibt in der Phiole eingeschlossen. Aber der Homunkulus ist insoweit immerhin Mensch, daß in ihm die Liebe zu seinem Erzeuger erwacht. Das Gemachte will behandelt werden wie das Geborene, es will geliebt werden. Liebe ist eine Bedingung auch seines Seinkönnens. Und deshalb spricht Homunkulus zu seinem Hersteller Wagner:
Nun Väterchen! wie steht’s? es war kein Scherz. / Komm, drücke mich recht zärtlich an dein Herz.
Aber das geht nicht, das Glas ist dazwischen und so muß Homunkulus die erste Lektion lernen:
Das ist die Eigenschaft der Dinge: Natürlichem genügt das Weltall kaum, / Was künstlich ist, verlangt geschloßnen Raum.
Homunkulus bleibt in der Phiole, das Künstliche kann einstweilen nur im künstlichen Milieu existieren, aber der Insasse des fliegenden Glases darf Faust und Mephisto begleiten auf der Reise ins antike Griechenland während der »klassischen Walpurgisnacht«.
    Goethe läßt sich auf den alchemistischen Traum des Menschenmachens ein in einem historischen Augenblick, da in den Naturwissenschaften seiner Zeit die erstmals gelungene Harnstoffsynthese, also die Bildung einer organischen Substanz aus anorganischen Stoffen, Anlaß zu kühnen Spekulationen gab über die Möglichkeit, auch kompliziertere Organismen und am Ende vielleicht sogar menschliches Leben künstlich herstellen zu können. Deshalb bezieht sich Goethe in der 1828 geschriebenen Homunkulus-Episode nicht nur auf paracelsische Alchemie, sondern eben auch auf diese zeitgenössischen Versuche. Wagner erklärt:
Was man an der Natur geheimnisvolles pries, / Das wagen wir verständig zu probieren, / Und was sie sonst organisieren ließ, / Das lassen wir kristallisieren.
    Doch erfuhr Goethe von dem Jenaer Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner, sein Informant in dieser Disziplin, daß die neuesten Ideen über das Menschenmachen doch nur haltlose Phantasien seien. Er war erleichtert und übertrug dieses Projekt eben nicht Faust sondern dem zwar wissenschaftlich kundigen, sonst aber törichten Wagner. Der darf Gedanken äußern, die von heutigen Fachidioten immer noch geglaubt und vorgebracht werden:
Doch wollen wir des Zufalls künftig lachen, / Und so ein Hirn, das trefflich denken soll, / Wird künftig auch ein Denker machen
.
    Ironie blitzt auf, wenn

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