Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
hatte er daran gedacht, Straßburg nur als Sprungbrett für Paris, dieser Hauptstadt der kulturellen Welt, zu nutzen. Den Eltern hatte er davon wohl nichts gesagt und er kam schließlich auch davon ab, und zwar gerade wegen seiner Erfahrungen im Grenzland beider Kulturen. In »Dichtung und Wahrheit« spürt man noch den verhaltenen Ärger und die Kränkung über die damals als arrogant empfundene Zurückweisung und Zurechtweisung durch manche Franzosen. Goethe las und sprach fließend Französisch, wenn es auch, wie er selbst eingesteht,
viel
buntscheckiger war als das irgend eines andern Fremden
, aus Lesefrüchten und Redensarten zusammengesetzt, die er den Theaterleuten, Dienstboten und Amtsleuten abgelauscht hatte. Er glaubte, in dieser Sprache völlig zu Hause zu sein, mußte aber erleben, daß er auf Schritt und Tritt eines besseren belehrt wurde. Die Franzosen in Straßburg, zumeist Offiziere und höhere Beamte, begegneten ihm zunächst sehr höflich, wenn sie aber bemerkten, daß er sich nicht mit der Gastrolle in der fremden Kultur begnügte, begann ein ständiges Korrigieren und Verbessern. Er fühle sich
gedemütiget
. Wenn er in Gesprächen etwas Interessantes vorbrachte, wünschte er, daß man darauf einging, nicht aber, daß man an seinem Ausdruck herumkrittelte. Er kam zur Überzeugung, daß man von den Franzosen allenfalls geduldet,
aber keineswegs in den Schoß der einzig sprachseligen Kirche aufgenommen
werde. Der gekränkte Stolz ließ ihn kritisch werden. Ist die französische Kultur nicht vielleicht doch überschätzt, ist sie nicht inzwischen alt und steif geworden, erstarrt in ihrer Formentradition? Herder bestärkte ihn in dieser Ansicht, die ein Jahrzehnt zuvor bereits Lessing in seiner Kritik am französischen Theater entwickelt hatte.
So waren wir denn
, heißt es in »Dichtung und Wahrheit«,
an der Grenze von Frankreich alles französischen Wesens auf einmal bar und ledig. Ihre Lebensweise fanden wir zu bestimmt und zu vornehm, ihre Dichtung kalt, ihre Kritik vernichtend, ihre Philosophie abstrus und doch unzulänglich, so daß wir auf dem Punkte standen, uns der rohen Natur wenigstens versuchsweise hinzugeben.
Den Natur-Ton hatte Goethe in seinen Sesenheimer Liedern schon recht gut getroffen. Er begann nun auch, von Herder angestiftet, in der ländlichen Umgebung des Elsaß Volkslieder zu sammeln. Er schickte sie an Herder mit der Bemerkung:
Aber ich habe sie bisher als einen Schatz an meinem Herzen getragen; alle Mädchen, die Gnade vor meinen Augen finden wollen, müssen sie lernen und singen.
Damit einem das Natürliche in der Poesie nicht allzu
roh
geriet, hatte man Shakespeare, dessen Stern in diesen Jahren aufging. In Leipzig hatte Goethe ihn erstmals in Wielands Prosaübersetzung gelesen, in Straßburg begann er (und seine Freunde) unter den Fittichen Herders einen wahren Kult mit ihm zu treiben.
Noch in Straßburg kam ihm die Idee, zum Namenstag des verehrten Dramatikers ein Fest auszurichten, dabei der Anregung des Schauspielers Garrick folgend, der 1769 zum ersten Mal ein solches Fest in Stratford-upon-Avon initiiert hatte. Die Festrede skizzierte Goethe noch in Straßburg. Als es dann am 14. Oktober 1771 so weit war, befand sich Goethe bereits wieder in Frankfurt, wo er einige Freunde zusammentrommelte, die der Vater bewirten mußte. Ihnen las er seine Lobrede auf Shakespeare vor.
Diese Rede, gerade weil sie kaum über Shakespeare und sein Werk informiert, gibt Auskunft über die Art von Goethes Begeisterung für den englischen Dramatiker. Shakespeare wurde für ihn zum Symbol eines neuen Dichtens und Denkens, in ihm sah er seine eigenen Ambitionen gespiegelt:
Von Verdiensten, die wir zu schätzen wissen, haben wir den Keim in uns.
In dieser Rede voller Ausrufezeichen wird in immer neuen Wendungen die Lust am Leben beschworen. Dazu gehört die Kritik an allzu verständigen Leuten, die sich und anderen das Leben mit Kummer beschweren. Dagegen wird Shakespeare aufgeboten, der mit
gigantischen Schritten
den ungeheuren Reichtum des Lebens ermißt. Wer diesem
größten Wandrer
folgt, lernt nicht nur die Welt, sondern auch sich selbst kennen, in gesteigerter Form:
ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert
.
Es geht in erster Linie um die Steigerung des Daseinsgefühls, dann aber auch um Kunstdinge, zum Beispiel um die vom französischen Theater postulierte Regel von den drei Einheiten. Shakespeare habe sie hinweggefegt. Die Einheit des Ortes
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