Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
oberste Gerichtshof für alle Rechtsstreitigkeiten der Reichsstände untereinander, sowie der Untertanen gegen ihre Obrigkeit. Kriminalsachen wurden hier nicht verhandelt. Das Gericht bestand seit 1495, zuerst in Speyer und seit dem Ende des 17. Jahrhunderts in Wetzlar. In dem kleinen Städtchen von ungefähr 5000 Einwohnern wimmelte es von Richtern, Prokuratoren, Advokaten, Gesandten und ihren Unterbeamten, Legationsräten, Gerichtsdienern, die alle ihren verworrenen Geschäften nachgingen, die sich endlos hinzogen. Es gab Prozesse, die schon über hundert Jahre anhängig waren. Es ging um Pfründen, Abgaben, Schulden, Gebietsstreitigkeiten, Pachtverhältnisse. Die streitenden Parteien versuchten die Angelegenheit zu beschleunigen oder mit Geldzuwendungen zu verschleppen. Die Korruption war weit verbreitet, und um sie einzudämmen, war fünf Jahre vor Goethes Eintreffen in Wetzlar eine Visitation angeordnet worden, wodurch das Heer der Beamten noch einmal anschwoll. Im Sommer 1772 waren die Untersuchungen noch immer nicht abgeschlossen.
Als Praktikant hatte man kein Pflichtprogramm zu absolvieren. Man konnte in den Aktenbergen herumstochern, die Auswahl war groß: 16 000 unerledigte Fälle stapelten sich in den Amtsstuben, das dichte juristische Unterholz des ehrwürdigen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Die Schüler-Szene des »Faust« resümiert Goethes Erfahrung in Wetzlar.
Es erben sich Gesetz’ und Rechte / Wie eine ew’ge Krankheit fort, / Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte, / Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Goethe kümmerte sich kaum um diese Geschäfte. An einigen wenigen Verhandlungen nahm er teil. Sie bestanden im Verlesen langer und gelehrter Schriftsätze der streitenden Parteien. Goethe war kaum in Wetzlar angekommen, da witzelte man schon über diesen schlanken Doktor mit den großen Augen, der jede Wissenschaft studiere außer Jura. Er galt als Schöngeist und Philosoph, auch daß er Rezensionen schrieb, sprach sich bald herum. Der Legationssekretär Wilhelm Jerusalem, der wenig später durch seinen Selbstmord Berühmtheit erlangen sollte, kannte Goethe von Leipzig her und nannte ihn abfällig einen »Frankfurter Zeitungsschreiber«. Der »Götz« war noch nicht veröffentlicht, aber man sprach schon darüber, und bei einer Tafelrunde, deren Mitglieder ein Spiel daraus machten, sich neue Namen zu geben, nannte man Goethe »Götz den Redlichen«. Goethe wirkte auch hier anziehend, man suchte seine Nähe. Er konnte so schön über Homer, Pindar, Ossian und Shakespeare reden und mit seiner sonoren Stimme so schön daraus vorlesen. Goethe verkehrte unter den jungen Juristen, den Advokaten und Legationssekretären. In die Kreise der höheren, oft auch adligen Beamten zog es ihn nicht. Wo er verkehrte, war er sogleich im Mittelpunkt. Der hannoversche Legationsrat Johann Christian Kestner, der Verlobte der Charlotte Buff, schildert die Szene, wie er Goethe im Sommer 1772 kennen lernte. Es war draußen im benachbarten Dorf Garbenheim, einem beliebten Ausflugsort. »Daselbst«, schreibt Kestner, »fand ich ihn im Grase unter einem Baum auf dem Rücken liegen, indem er sich mit einigen Umstehenden – einem epikureischen Philosophen (von Goué, großes Genie), einem stoischen Philosophen (von Kielmannsegg) und einem Mittelding von beiden (Dr. König) – unterhielt und ihm recht wohl war.«
Er liegt lässig im Grase, die anderen stehen um ihn herum und lauschen seinen Worten. Kestner schildert die Szene mit einer gewissen Ironie. Dieser Mann im Grase ist gewiß recht eindrucksvoll, aber kann man ihn ganz ernstnehmen? Redet man so mit den Leuten, wenn man etwas auf sich hält? Oder hält er gar zu viel auf sich? Kestner war hinzugetreten und hatte bemerkt, daß von »interessanten Dingen« gesprochen wurde und was dieser Goethe äußerte, war das Interessanteste. »Sie wissen«, schreibt Kestner in dem Brief, der die Schilderung der Szene enthält, »daß ich nicht eilig urteile. Ich fand schon, daß er Genie hatte und eine lebhafte Einbildungskraft, aber dies war mir doch noch nicht genug, ihn hochzuschätzen.« Doch dann lernte er ihn näher kennen, und zwar im Hause seiner Verlobten Lotte Buff. Dort hatte Goethe Eingang gefunden annähernd so, wie es später im Werther-Roman beschrieben wird.
Goethe hatte teilgenommen an einem Ausflug nach dem Jagdhaus in Volpertshausen, wo auch getanzt werden sollte. Zwölf Herren und dreizehn junge Damen von einwandfreiem Ruf waren
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