Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
auch das wird vorbeigehen.
Anmerkungen
Achtes Kapitel
Ein Porträt des jungen Goethe. Briefwechsel mit Kestners.
Der Selbstmord des Jerusalem. Der »Götz« erscheint. Der Geheimtip
wird zum Star. Hochgefühle. Prometheus. Poet oder Prophet?
Mahomet. Satirische Feldzüge gegen die falschen Propheten.
Ehe wir dem jungen Goethe auf seinem weiteren Lebensgang folgen, halten wir einen Augenblick inne und vergewissern uns, wie er zu diesem Zeitpunkt seiner Umgebung wohl erschienen sein mochte, beispielsweise einem so nüchternen, scharfblickenden Geist wie Kestner, der einige Gründe hatte, skeptisch auf seinen Nebenbuhler zu blicken, auch wenn er ihn, fast gegen seinen Willen, über die Maßen schätzte. Es hat sich ein Briefentwurf Kestners erhalten, der die vielleicht eindringlichste und prägnanteste Schilderung enthält, die wir vom jungen Goethe besitzen.
»Er 〈Goethe〉 besitzt, was man Genie nennt, und eine ganz außerordentlich lebhafte Einbildungskraft. Er ist in seinen Affekten heftig. Er hat eine edle Denkungsart. Er ist ein Mensch von Charakter. Er liebt die Kinder und kann sich mit ihnen sehr beschäftigen. Er ist bizarre und hat in seinem Betragen, seinem Äußerlichen verschiedenes, das ihn unangenehm machen könnte. Aber bei Kindern, bei Frauenzimmern und vielen andern ist er doch wohl angeschrieben. – Er tut, was ihm einfällt, ohne sich darum zu bekümmern, ob es anderen gefällt, ob es Mode ist, ob es die Lebensart erlaubt. Aller Zwang ist ihm verhaßt. – Für dem weiblichen Geschlecht hat er sehr viele Hochachtung. – In principiis ist er noch nicht fest und strebt noch erst nach einem gewissen System. 〈...〉 Er ist nicht, was man orthodox nennt. Jedoch nicht aus Stolz oder Caprice oder um was vorstellen zu wollen. Er 〈...〉 stört andere nicht gern in ihren ruhigen Vorstellungen. 〈...〉 Er geht nicht in die Kirche, auch nicht zum Abendmahl, betet auch selten. Denn, sagt er: ›Ich bin dazu nicht genug Lügner‹. 〈...〉 Vor der christlichen Religion hat er Hochachtung, nicht aber in der Gestalt, wie sie unsere Theologen vorstellten. 〈...〉 Er strebt nach Wahrheit, hält jedoch mehr vom Gefühl derselben als von ihrer Demonstration. 〈...〉 Aus den schönen Wissenschaften und Künsten hat er sein Hauptwerk gemacht oder vielmehr aus allen Wissenschaften, nur nicht denen sogenannten Brotwissenschaften. 〈...〉 Er ist, mit einem Worte, ein sehr merkwürdiger Mensch 〈...〉«
Der sprühende Einfallsreichtum, die entfesselte Einbildungskraft, die affektive Präsenz, die Unbekümmertheit gegenüber Konvention und Mode, die Spontaneität des Verhaltens – das sind die unmittelbar wirkenden Eigenschaften. Hintergründiger sind der Ernst und die Gewissenhaftigkeit, die besonders in Religionsdingen hervortritt. Er hat Ehrfurcht vor Religion, nicht aber vor ihren irdischen Machtansprüchen und Dogmen. Dieser »merkwürdige Mensch« lebt in allem nur sich selbst, hat dabei aber eine unbändige Neugier auf die Welt, die er sich auf eigene Art aneignet. Fern steht er den »Brotwissenschaften«, und damit auch der ausschließlichen Orientierung am beruflichen Fortkommen. Allerdings kann er sich das auch leisten. Kestner, durchaus ein Mensch der nüchternen Brotwissenschaften, hält diesen Zug fest, weder herablassend noch schwärmerisch bewundernd, doch staunend angesichts solcher Souveränität und Ungebundenheit.
Dieses Bild von sich läßt Goethe bei Kestner in Wetzlar zurück, als er sich zu Fuß auf den Weg macht, das Tal der Lahn hinab nach Frankfurt. Unterwegs besucht er die damals berühmte Schriftstellerin Sophie von La Roche, die mit Mann und Familie ein stattliches Haus bei Ehrenbreitstein führte. Der Mann ist weltkluger aufgeklärter Diplomat, tolerant und ein wenig herablassend gegenüber den Schöngeistern, die seine Frau ins Haus zieht. Sophie, eine Kusine Wielands und einst auch dessen Verlobte, war durch ihren 1771 erschienenen Briefroman »Geschichte des Fräulein von Sternheim« berühmt geworden. Man hielt das empfindsame, tugendhafte Fräulein des Romans für ein Ebenbild der Autorin und war dann enttäuscht, wenn sich die La Roche als kühle Gesellschaftsdame gab. So hatte auch Goethe sie zunächst erlebt, als er sie durch Merck und im Umkreis der Darmstädter Damen Anfang 1772 kennen lernte. Doch ihm gegenüber öffnete sie sich. Es spinnt sich ein vertrauensvolles Verhältnis an, Goethe wird sie in seinen Briefen bisweilen sogar mit
Mama
ansprechen.
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