Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
Doch eine gewisse Reserve und Vorsicht bleibt. Er gibt sich ihr gegenüber geistreich plaudernd, stets unterhaltsam und darauf bedacht, das Auf und Ab seiner Stimmungen zu glätten. Über drei Generationen hin wird Goethe mit der La Roche in Verbindung bleiben, mit der Tochter Maximiliane, verheiratete Brentano, deren schwarze Augen er Werthers Lotte zuschreibt, und später mit deren Tochter Bettine, verheiratete von Arnim.
Goethe kam nach Frankfurt zurück, wo ihn der Vater mit Vorwürfen erwartete. Der Aufenthalt in Wetzlar hatte einiges Geld gekostet, aber was hat er gebracht für das berufliche Fortkommen? Der Vater rechnet, der Sohn nicht, der läßt sich bloß bezahlen. In einem Brief an Kestner klagt er:
lieber Gott wenn ich einmal alt werde, soll ich dann auch so werden. Soll meine Seele nicht mehr hängen an dem was liebenswert und gut ist. Sonderbar, daß da man glauben sollte je älter der Mensch wird, desto freier er werden sollte von dem was irdisch und klein ist. Er wird immer irdischer und kleiner
.
Die Stimmung zu Hause empfand Goethe als bedrückend. Ärger gab es auch mit den »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«. Einige Rezensionen erregten Anstoß bei der höheren Geistlichkeit wegen ihres frechen Tons. Es gab Prozesse. Auch der Verleger klagte, manches sei zu unverständlich, über die Köpfe der Leser hinweg formuliert. Goethe beschloß, die Rezensententätigkeit einzustellen und verabschiedete sich zum Jahresende 1772 von seinen Lesern mit einer ironischen »Nachrede«. Er habe erfahren, schreibt er,
was das sei, sich dem Publiko kommunizieren wollen, mißverstanden werden, und was dergleichen mehr ist.
Im Oktober 1772 kam von Kestner die Nachricht, ein Bekannter aus Wetzlar, der ehemalige Legationssekretär Siegfried von Goué, der sich dem Trinken und dem Verfassen von Tragödien ergeben hatte, hätte sich umgebracht.
Ich ehre auch solche Tat,
schreibt Goethe,
und bejammere die Menschheit und laß alle Scheißkerle von Philistern Tobaksrauchs Betrachtungen drüber machen und sagen:
da habt ihr’s.
Ich hoffe nie meinen Freunden mit einer solchen Nachricht beschwerlich zu werden
.
Es war ein Gerücht, das nicht zutraf. Goué lebte unbekümmert, inzwischen in Göttingen. Zwei Wochen später aber geschah wirklich ein Selbstmord in Wetzlar: Wilhelm Jerusalem hatte sich erschossen. Man redete überall darüber, denn den Namen Jerusalem kannte man. Er war der Sohn eines berühmten, mit Lessing eng befreundeten religiösen Schriftstellers. Man spekulierte, was ihn wohl in den Tod getrieben habe? War es, wie Goethe an Sophie von La Roche schreibt, das
ängstliche Bestreben nach Wahrheit und moralischer Güte
, also der hohe moralische Anspruch, woran Jerusalem gescheitert war? Es soll eine unglückliche Liebesgeschichte mit einer verheirateten Frau im Spiel gewesen sein, schreibt Kestner.
Die Nachricht war mir schröcklich und unerwartet,
antwortet Goethe und beschuldigt sogleich Jerusalems Vater, der den Sohn bigott erzogen habe.
Wenn der verfluchte Pfaff sein Vater nicht schuld ist, so verzeih mir’s Gott, daß ich ihm wünsche er möge den Hals brechen.
Goethe erbat von Kestner Auskunft über die Todesumstände. Kestner verfaßte einen umfangreichen, detaillierten Bericht, selbst bereits ein literarisches Meisterwerk, dem Goethe ein Jahr später für seinen »Werther« nicht nur sachliche Details, sondern auch einzelne gelungene Formulierungen entnahm: Der berühmte letzte Satz –
Kein Geistlicher hat ihn begleitet
– findet sich schon in Kestners Bericht.
In »Dichtung und Wahrheit« schildert Goethe die Entstehung des »Werther« so, als wäre die Nachricht von Jerusalems Selbstmord die Initialzündung gewesen für die literarische Verarbeitung des Liebessommers von Wetzlar. Tatsächlich dauert es noch ein ganzes Jahr, ehe Goethe mit dem »Werther« beginnt. Es war noch einiges dazwischengekommen.
Zunächst befindet sich Goethe in gedrückter und zugleich frivoler Stimmung. Mit Kestner steht er im engen Briefverkehr und kokettiert mit seiner Rolle des erotisch frustrierten Hausfreundes. Er fordert, als wollte er sich selbst quälen, daß man ihm die Beschaffung der Eheringe für die Hochzeit überläßt. Er schickt die Ringe am 7. April 1773 mit der Bemerkung, er werde von nun an nicht mehr
neugierig
sein, die beiden zu sehen. Zur Hochzeit werde er auch nicht kommen. Lottes Silhouette, die bisher über seinem Bett hing, habe er aus der Schlafstube entfernt. Erst wenn er davon hören
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