Goethe - Kunstwerk des Lebens: Biografie (German Edition)
vertrauten Personen begegnen, denen aber
fremde Leidenschaften aufgeflickt
seien.
Als Kestners im Herbst den Roman lesen, sind sie entsetzt und empört. Es sei darin
zu viel
enthalten,
um nicht auf sie stark zu deuten
, deshalb würden die hinzuerfundenen Bestandteile ebenfalls ihnen zugerechnet. Lotte ist empört, daß ihr im Roman angesonnen wird, Werthers Liebe erwidert zu haben, und Kestner fühlt sich gekränkt durch die Art, wie im Roman Albert dargestellt wird, nämlich als bornierter und engherziger Philister.
Goethe antwortet schuldbewußt und zerknirscht:
Es ist getan, es ist ausgegeben, verzeiht mir wenn ihr könnt.
Dieser Brief ist Ende Oktober 1774 geschrieben und das Buch ist soeben ausgeliefert. Im November, als sich schon der Riesenerfolg abzeichnet, schreibt Goethe nochmals an Kestner:
Könntet ihr den tausendsten Teil fühlen, was Werther tausend Herzen ist, ihr würdet die Unkosten nicht berechnen die ihr dazu hergebt!
Goethes Zerknirschung ist vorüber, kein Schuldgefühl mehr. Er macht jetzt umgekehrt Kestner den versteckten Vorwurf der Selbstbezogenheit, er ignoriere, wie andere Menschen durch diese Geschichte bereichert würden.
Werther muß – muß sein! – Ihr fühl
t ihn nicht, ihr fühlt nur mich und euch. Er gibt ihm damit zu verstehen: Werther ist inzwischen eine öffentliche Seele geworden, und er selbst wie auch die Kestners hätten ganz einfach ihre Eigentumsrechte an den seelischen Bestandteilen verloren, die sie dazu gegeben haben. In einer späteren Ausgabe des Romans wird Goethe dann doch einige Retuschen und Veränderungen vornehmen, um die Kestners zufriedenzustellen.
Der »Werther« hatte große Wirkung beim Publikum, und er hat auf den Autor zurückgewirkt. Der Roman und seine Wirkungsgeschichte wird Goethes Leben in neue Bahnen lenken.
Anmerkungen
Zehntes Kapitel
Cornelias Unglück. »Clavigo«, der Treulose. Lavater und Basedow.
»Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten«.
Rheinfahrt im Sommer. Freundschaftsfeier. Friedrich Heinrich Jacobi.
Einladung nach Weimar. Lili und Auguste, ein erotisches Spiegelkabinett.
Die zwei Geschwindigkeiten. Reise in die Schweiz.
Weimar, fast eine Flucht.
Als Goethe den »Werther« schrieb, hatte er nicht nur die Romanze von Wetzlar und die Mißhelligkeiten um Maximiliane Brentano zu verarbeiten. Aufgewühlt war er auch durch die Trennung von der Schwester Cornelia, die Ende 1773 Georg Schlosser heiratete und mit ihm nach Südbaden zog.
Das Verhältnis zwischen Schlosser und Cornelia hatte sich während der Sommermonate 1772 angesponnen, die Goethe in Wetzlar verbrachte. Er hatte davon nichts bemerkt und war völlig überrascht, als er nach seiner Rückkehr damit konfrontiert wurde. Er sprach nicht dagegen, aber für sich selbst dachte er,
daß wenn der Bruder nicht abwesend gewesen wäre, es mit dem Freunde so weit nicht hätte gedeihen können
.
Die Geschichte zwischen Cornelia und Schlosser verlief unglücklich, vom fast euphorischen Anfang abgesehen. Cornelia hatte vor der Vermählung Ende 1773 im Tagebuch notiert: »Obgleich ich seit langem die romantischen Gedanken über die Ehe verworfen habe, konnte ich niemals eine erhabene Idee von ehelicher Liebe auslöschen, jener Liebe, die nach meinem Urteil allein die Vereinigung glücklich machen kann.«
Sie spricht nicht deutlich aus, welche Art Ehe ihrem Ideal entsprochen hätte, doch zweifellos war die Beziehung zum Bruder der Maßstab. Sie hatte innigen Anteil genommen an Leben und Wirken des Bruders, der mit ihr seine literarischen Vorhaben besprach, sie als Kritikerin ernstnahm und ihren Geschmack schätzte. Sie hatte maßgeblichen Einfluß auf die Entstehung des »Götz« genommen. Goethe hatte sie auch sonst bei seinen literarischen Unternehmungen ins Vertrauen gezogen. Die
neue Welt
, die sich ihm
im Felde der Einbildungskraft
auftat, wollte er mit ihr teilen. Das war ihre gemeinsame Intimität, die allerdings über das Poetische hinausdrängte; in »Dichtung und Wahrheit« deutet Goethe behutsam ein inzestuöses Verlangen an. Diese Äußerung bezieht sich auf das frühe Jugendalter. Doch die erotische Einfärbung dieser Geschwisterliebe blieb, und sie veranlaßte Goethe, Pläne zu schmieden für einen Roman über diese Art der geschwisterlichen Beziehung.
Die Vertrauensstellung in literarischen Angelegenheiten war für Cornelia nicht nur ein Liebesbeweis, sondern hob auch ihr Selbstwertgefühl. Das war allerdings nur in Dingen von Kunst und
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